"Mitschüler, der am ehesten nicht vergessen wird." Dieses Label bekam Andrew Cunanan 1987 von seinem Abschlussjahrgang an der Bishop's School in La Jolla verliehen. Zehn Jahre später sorgte er mit dem Mord am Modedesigner Gianni Versace dafür, dass die Prognose eintrat.

Am 15. Juli fing Serienkiller Cuna­nan den Modepapst vor seinem edlen Anwesen im Art-déco-Viertel von Miami ab und richtete ihn mit zwei Schüssen regelrecht hin. Die blanken Fakten des kaltblütigen Verbrechens dürften den meisten bekannt sein. Doch wie schon bei "The People v.
O. J. Simpson" sind es auch hier vor
allem die Details, die den Reiz der zweiten Staffel von "American Crime Story" ausmachen.

Fakten. Fakten. Fakten. Und immer an den Zuschauer denken
Basierend auf Maureen Orths Tatsachenroman "Vulgar Favors: Andrew Cunanan, Gianni Versace, and the Largest Failed Manhunt in U.S. History" und anderen zeitgenössischen Berichten spinnt Showrunner Ryan Murphy eine faszinierende Story, die von den Tätern, Opfern und vor allen Dingen den Verfehlungen der Polizei erzählt. Denn das macht Murphy mal mehr, mal weniger subtil deutlich: Versace könnte heute noch leben, wenn bei der Jagd auf Cunanan sorgfältiger gearbeitet worden wäre.

Vor dem Mord an Versace hatte Andrew Cunanan bereits vier andere Menschen getötet. Sein Gefährdungspotenzial wurde so hoch eingestuft, dass ihn das FBI auf die Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher hob. Doch die Fahndung lief nur zögerlich an. Obwohl den ­Ermittlungsbehörden klar war, dass sich Cunanan im Raum Miami aufhalten musste, wurden erste Fahndungsplakate erst am Tag nach dem Mord an Versace aufgehängt. Offizielle Begründung: Probleme mit dem Druck der Flyer. Ryan Murphy hin­gegen sieht einen anderen Grund: die Homophobie der Zeit, "besonders in den verschiedenen Polizeieinheiten, die sich geweigert haben, Poster aufzuhängen". Für den offen homosexuellen Murphy ein sehr persönliches Thema, aber nicht der Grund, warum er diese Geschichte erzählt.

Der Podcast zu "Der Mord an Gianni Versace"

Gesellschaftliche Relevanz

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"Das Besondere an ,American Crime Story‘ ist, dass es uns nicht um die Verbrechen geht", erklärt der 52-Jährige. "Wir versuchen, über Verbrechen im Kontext von gesellschaftlichen Themen zu reden." Das wurde auch in der ersten Staffel von "American Crime Story" deutlich. Denn "The People v. O. J. Simpson" nutzte den spektakulären Mordprozess gegen den ehemaligen Football- und Filmstar lediglich als Vehikel, um die Gräben zwischen Schwarz und Weiß aufzuzeigen. Genau wie Rassismus ist auch Homophobie in den USA ein Zustand, der sich bis heute kaum ­gebessert hat. "Vor allem unter dem Präsidenten, den wir zurzeit haben", fügt Murphy nachdenklich hinzu.

Diese hehren Ansätze der Serie, die der ersten Staffel zwei Golden Globes und neun Emmys eingebracht haben, spiegeln sich auch in den Titeln der abgeschlossenen Staffeln wider. Denn in keiner von ihnen taucht das Wort Mord auf. Season zwei wurde hin­gegen "The Assassination of Gianni Versace" genannt - das Attentat auf Gianni Versace. "Ich finde, das Wort Attentat hat einen politischen Unterton", erklärt der Showrunner seine Wahl. "Es kennzeichnet jemanden, der einen anderen umbringt, um ­etwas deutlich zu machen. Und ich glaube, das ist das, was Andrew Cuna­nan vorgehabt hat."

Denn - auch das macht die Serie deutlich - Versace war kein Zufallsopfer. Nachdem die erste Folge bereits die Tat zeigt, springt die Serie in die Vergangenheit zurück. Schon 1990 sollen sich Cunanan und Versace in einem Schwulenclub in San Francisco zum ersten Mal begegnet sein. Seither hatte der damals 21-Jährige eine regelrechte Obsession für den Modeschöpfer entwickelt.

Cunanan, der seinen Lebensunterhalt als Liebhaber reicher, älterer Herren bestritt, redete immerzu von Versace und hatte unzählige Artikel und Bücher über den Modezar in seinem Besitz. Minutiös schildert die Serie das Leben von Opfer und Täter bis zu ihrem verhängnisvollen letzten Zusammentreffen vor den Eisentoren von 1116 Ocean Drive. "Vom Rucksack bis zu den Schnürsenkeln haben wir alles recherchiert", prahlt Murphy, der zuvor mit "Glee" und "American Horror Story" von sich reden machte. Lediglich der Bitte von Donatella Versace, ihre Kinder außen vor zu lassen, kam er nach. In anderen Aspekten nimmt die Serie allerdings weniger Rücksicht auf die Gefühle der Familie.

Seit Jahren gab es Gerüchte, Gianni Versace habe eine HIV-Erkrankung geheim gehalten. Die Familie hat diese auch in Maureen Orths Vorlage ­geäußerte Vermutung bisher weder bestätigt noch dementiert. Die Serie macht hingegen bereits in der zweiten Folge unmissverständlich klar, dass dem so war. Und auch bei der Inszenierung des Todes stellte die ­Serie Authentizität über Pietät. Versaces fiktionale Sterbeszene wurde auf exakt den Treppen gedreht, auf denen er auch im realen Leben starb. Denn die Casa Casuarina, in der Versace seit 1992 wohnte, ist mittlerweile ein Boutiquehotel, das für den Dreh angemietet wurde.

Stars lieben Ryan Murphy

Nicht nur die Location spricht für Klasse. Auch die Darsteller. Längst hat sich herumgesprochen, dass Ryan Murphy nicht nur Karrieren ankurbeln oder gar wiederbeleben kann. Die Zusammenarbeit mit ihm ist so angenehm, dass die Schauspieler wieder und wieder bei ihm mitwirken. Cuba Gooding Jr. tauchte durch "The People v. O. J. Simpson" wieder aus der Versenkung auf. Jessica Lange spielte in vier Staffeln von "American Horror Story" mit und begleitete Murphy zu seiner neuesten Serie "Feud". Und Sarah Paulson ist von "Nip/Tuck" über "American Horror Story" bis zu "American Crime Story" und "Feud" fast überall dabei, wo Ryan Murphy draufsteht.

Auch "The Assassination of Gianni Versace" bedient sich teilweise aus dem Ryan-Murphy-Fundus. Sowohl Ricky Martin, der Versaces Lebens­partner Antonio D'Amico spielt, als auch Darren Criss, der den Serienkiller verkörpert, sangen und tanzten für Murphy schon durch "Glee". Neumitglieder im Murphy-Kosmos sind hingegen die beiden Versaces selbst: Edgar Ramírez als Gianni und Penélope Cruz als Donatella Versace.

Sensationell statt sensationsgeil

Cruz musste sich sehr überwinden, die Rolle von Versaces Schwester anzunehmen, erzählte sie Gwyneth Paltrow im "Interview Magazine". Denn die Spanierin ist mit der Modeschöpferin lose befreundet. "Es war wichtig für mich, mit ihr darüber zu reden. Es ist eine delikate Sache. Ich spiele jemanden, der noch am Leben ist, der seinen Bruder auf grausame Weise verloren hat und ihn auch zwanzig Jahre später noch vermisst."

Dass die Serie den Fall noch einmal aufrollt und ins Auge der Öffentlichkeit zurückholt, wird für die Hinterbliebenen und Beteiligten sicher nicht leicht. Es werden wieder die gleichen Fragen gestellt werden wie vor zwanzig Jahren. Dutzende Artikel werden die Bekanntschaft von Versace und Cunanan hinterfragen, die mögliche HIV-Infektion des Modeschöpfers untersuchen und die Versäumnisse der Polizei aufzeigen. ­Umso wichtiger, dass die Serie die Ereignisse nicht sensationsheischend ausschlachtet. Das haben nach dem Mord bereits andere getan. 1998 spielte Franco Nero den Modezar in dem Kinofilm "The Versace Murder", und 2000 rappte Eminem despektierlich "Hey, it's me, Versace! Whoops, somebody shot me. And I was just checking the mail. Get it? ‚Checking the male‘." Murphy und sein Team entgehen der Falle. Sie schaffen mit Staffel zwei ihrer "American Crime Story" ein TV-Ereignis.