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"Mid90s"-Kritik: Damals, als wir jung waren

Szene aus Mid90s
Szene aus "Mid90s" Verleih

Jonah Hill kann bereits auf eine beachtliche Karriere als Schauspieler zurückblicken, zweimal schon war er für den Oscar nominiert. Nun legt er mit "Mid90s" sein Kinofilmdebüt als Regisseur vor. Wie verraten euch, ob sein Werk sehenswert ist oder nicht.

Als Rezensent oder Kritiker eines Films sollte man es doch gemeinhin besser wissen und das zu besprechende Werk möglichst mit einem von Fachwissen geprägten Abstand betrachten, um ihm gerecht zu werden. Emotionen, die man beim Schauen gespürt hat, wollen anschließend in Worte gefasst und genauestens reflektiert werden und extrem banal ausgedrückt wollen Empfinden und Urteil ausführlich formuliert werden. Doch am Ende des Tages haut auch nur ein Mensch in die Tasten und manchmal wird man dann von Gefühlen regelrecht überwältigt, dass die kritische Distanz den Hut nehmen muss. Bei "Mid90s", dem Spielfilm-Regiedebüt von Schauspielstar Jonah Hill, wird es extrem nostalgisch, womit er durchaus in Zeiten von allgemeiner Retro-Begeisterung, die 80er zitierende Serien wie "Stranger Things" oder 90er-Jahre-Partys den (Hipster-) Nerv voll treffen wird.

Der Inhalt

Die 90er: Der 13-jährige Stevie (Sunny Suljic) wächst mit seiner alleinerziehenden Mutter (Katherine Waterston) und seinem Bruder (Lucas Hedges) auf. Es ist die goldene Ära im HipHop, die Hosen werden Baggy und damit tief und weit getragen und die Jugend rollt auf Skateboards durch die Gegend, auf alle Regeln pfeifend, während sie ihre ganz eigenen aufstellt. Stevie möchte dazugehören und auch mit den coolen Kids herumhängen. Langsam freundet er sich mit einer Gruppe Jungs an. Erst bekommt er einen Spitznamen verpasst, dann folgt das erste richtig gute Rollbrett - und ab dafür. Für Stevie eröffnet sich eine neue Welt der Anerkennung und der ersten sexuellen Erfahrungen. Aber als Heranwachsender sind die Grenzen noch nicht klar definiert und Stevie wird sie früher ausloten müssen, als ihm lieb ist...
Foto: Verleih, Szene aus "Mid90s"

Nostalgie pur

Von der allerersten Sekunde an wird klar, dass "Mid90s" sich nicht einfach nur damit begnügt, die 90er anhand zahlreicher Referenzen wieder aufleben zu lassen. Das Bildformat ist 4:3, gedreht wurde ausschließlich auf 16mm und selbst der Ton klingt mehr nach guten altem Stereo als nach modernstem Dolby Atmos. Alleine technisch wirkt der Film deshalb mehr wie eine wieder entdeckte Privataufnahme, die Jahre im Keller oder auf dem Dachboden vor sich hinschlummerte, als wie eine professionelle Filmproduktion. Natürlich fehlen aber auch alle notwendigen Memorabilia nicht, um die dargestellte Zeit definitiv als die 90er zu etablieren: Gleich zu Beginn betritt Stevie das Zimmer von Bruder Ian, an den Wänden hängen zahlreiche Poster von Rap-Acts aus der Zeit wie dem Wu-Tang Clan oder Mobb Deep, in den Regalen sind die klassischen Alben in CDs aufgereiht. In anderen Szenen wird wahlweise auf dem Super Nintendo oder der uralten Sony Playstation gezockt, der Kleidungsstil und die Marken passen zur Dekade.

Man muss aber dazu erwähnen: Das sind die "coolen" 90er, die, die man damals erlebte, wenn man die entsprechenden Interessen hatte und den dazugehörigen Geschmack in punkto Musik, Mode, Lifestyle. Von den Backstreet Boys und den Spice Girls fehlt jede Spur, auch Techno erklingt nirgendwo und erst recht nicht "Barbie Girl" - stattdessen ganz programmatisch "93 'til Infinity" von den Souls of Mischief oder "Liquid Swords" von GZA/Genius zu Ollies, Kickflips oder Crooked Grinds. Wer also schon damals nicht dazu gehörte, wird "Mid90s" möglicherweise "nur" als akkurates Abbild von damals gepaart mit einer Coming-of-Age-Geschichte wahrnehmen. Und das wäre ja an sich auch schon vollkommen ausreichend.
Foto: Verleih, Szene aus "Mid90s"

85-minütige Zeitkapsel

Aber wer diese Zeit aktiv durchlebt hat und sich auch mit der dargestellten, zugegebenermaßen recht spezifischen Szene identifizieren kann, muss sich beim Kauf eines Kinotickets auf etwas gefasst machen: Der Look und die Sounds packen einen gleich zu Beginn fest an den Schultern und zerren den Zuschauer in diese Zeitkapsel, aus der es für die folgenden 85 Minuten kein Entrinnen gibt - Nostalgie ist eben ein wirklich mächtiges Gefühl.

Die oberflächlichen Flashbacks sind aber nur die halbe Miete, denn trotz alledem muss eine Geschichte erzählt werden. Diese mag eigentlich nicht besonders herausragend anmuten, aber Hill tat gut daran, diese mit Blick auf seinen jungen Protagonisten einfühlsam und nuanciert voranzutreiben. Und hier setzt die nächste, weitaus stärkere Nostalgiestufe ein - zumindest für den Autor dieser Zeilen: Seine wahre Wirkung entfaltet "Mid90s" nämlich nicht im bloßen Wiedersehen und Wiedererkennen, sondern vor allem im Wiedererleben.
Foto: Verleih, Szene aus "Mid90s"

Flashback zur Jugend

Die Schüchternheit, mit der Stevie an die coolen Jugendlichen herantritt und die leise Hoffnung, von ihnen bemerkt, akzeptiert und aufgenommen zu werden, das spürbare High, wenn man sich seine Sporen so langsam verdient, auch die Prügeleien mit dem älteren Bruder, der Leichtsinn, der zutage tritt, wenn man sich und anderen etwas beweisen will - Hill erzählt von einem Leben, das auch andere genauso in jungen Jahren gelebt haben dürften. Es geht nicht einzig nur darum, Vergangenes authentisch zu zeigen, das alleine reicht nicht. Aber die Kombination der Retro-Darstellung mit einem innig spürbaren Gefühl für die eigenen prägenden Jahre sorgt für emotionale Vertrautheit, als wäre man nach all den Jahren des Erwachsenseins wieder zurück zu seinen Wurzeln heimgekehrt. Das macht "Mid90s" besser als vergleichbare Werke in Film und Fernsehen: Hills Film zitiert sich nicht einfach durch ein Jahrzehnt, er fühlt sich wirklich wie ein Artefakt dieser Zeit an.

Da kann man dann auch verschmerzen, dass insbesondere Katherine Waterston und Lucas Hedges als Nebenfiguren ultimativ verschenkt und unterentwickelt bleiben. In ihren Szenen überzeugen sie, aber es sind nicht sehr viele und ihre Konflikte mit dem von Sunny Suljic gespielten Stevie werden gar nicht weiter aufgelöst. Hier war durchaus Potenzial, aber andererseits macht Hill nie einen Hehl daraus, dass die Geschichte fast ausschließlich aus den Augen von dem kleinen Hauptprotagonisten erzählt wird - und dem sind nun einmal seine Freunde und Skatboarding gerade sehr viel wichtiger als seine eigene Familie.

Fazit: "Mid90s" ist eine nicht nur kosmetisch, sondern auch emotional authentische Reise zurück in eine ganz besondere Zeit.