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"The Dark Knight" von 2008 entwickelte sich zum Megahit, der ganz besonders von Heath Ledger als Batman-Widersacher Joker profitierte. Für seinen Film legte Regisseur Christopher Nolan die Figur als etwas "Absolutes" an, ohne konkrete Herkunftsgeschichte. In gewisser Weise macht das den neuen Film "Joker" von Todd Phillips zum Anti-"Dark Knight". Auseinandersetzungen mit dem Helden im Fledermauskostüm gab es in den vergangenen Jahrzehnten zur Genüge in Film, Fernsehen und natürlich in den Comics zu sehen. Doch mit Hilfe von Joaquin Phoenix in Topform bekommt der Kultbösewicht eine eigene Origin-Story für die große Leinwand spendiert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und Phoenix wird sicher in der kommenden Awards-Saison ein ganz großes Wörtchen mitzureden haben.

Joker: Das ist die Geschichte

Auf den Straßen von Gotham verdient sich ein Mann seine Brötchen, indem er als Clown verkleidet ein Werbeschild schwingt. Sein Name: Arthur Fleck. Arthur träumt davon, eines Tages als Komiker ganz groß rauszukommen, doch bis dahin muss er bei seiner Mutter leben und an seinem Material feilen. Doch das Leben, das vor seiner Haustür auf ihn wartet, schlägt ihn wortwörtlich mehr als nur einmal zu Boden. Eines Tages aber trifft Arthur eine verheerende Entscheidung, die ihn auf die Überholspur zum größten Kriminellen des ganzen Landes schickt …

Joker: Herkunft des Bösen

Der "absolute" Joker hat als Antithese zu Batman immer recht gut funktioniert, die nebulöse bis gar nicht vorhandene Vergangenheit betonte das Mysterium, das ihn umwehte. Ob die Verfilmung einer Ursprungsgeschichte überhaupt notwendig war, ist natürlich eine legitime Frage. Doch das Ergebnis ist insgesamt gut genug, um sein Dasein zu rechtfertigen. Zuschauer sollten aber nicht den Fehler begehen, im Kopf "Joker" als Origin-Story auf alle anderen bestehenden wie noch nachfolgenden Iterationen anzuwenden – nicht nur würde man schnell zu Logikproblemen kommen, man würde auch den jeweiligen Interpretationen der Figur nicht gerecht werden. Zum Beispiel würde man so Nolans Intention bei "The Dark Knight" den Boden unter den Füßen wegziehen, die Wirkung würde im Nachhinein ganz anders sein. Folgerichtig ist der neue Film auch nicht im DCEU mit Titeln wie "Suicide Squad" oder "Justice League" verankert, sondern ein für sich stehendes Werk.

Der erzählerische Ansatz hat natürlich einen anderen Effekt auf die Wahrnehmung der Figur und auch auf ihr Gebaren. Ob im Kino oder in Serien, der Joker präsentierte sich stets als das vollkommen nach außen gerichtete, unkontrollierbare Chaos. Doch Regisseur Phillips, sein Co-Drehbuchautor Scott Silver und Hauptdarsteller Phoenix gehen den umgekehrten Weg des inneren Seelenkonfliktes. Das macht die sonst so überzeichnet wirkende Figur menschlich greifbar. Für den an sich netten Loser Arthur kann man wirklich Mitleid entwickeln, sein Abstieg in den Wahnsinn wirkt vor diesem Hintergrund besonders tragisch. Ungeachtet der offensichtlichen (und kritisierten) Parallelen zu "The King Of Comedy" und "Taxi Driver" von Martin Scorsese, funktioniert "Joker" als eigenständiges Porträt eines einsamen Mannes, der durch äußere Einflussfaktoren in den Abgrund getrieben wird.

Mit der Entscheidung, diverse Merkmale auf konkrete Verletzungen und Traumata zurückzuführen, haben die Macher den Joker aber ein wenig zu sehr geerdet. Markenzeichen der meisten Darstellungen ist eine verrückte Lache, die den völlig durchdrehenden Verstand unterstreicht, doch in "Joker" wird ein Vorfall aus Arthurs Kindheit als Erklärung herangezogen. Seitdem muss er unbeabsichtigt immer wieder Lachen, kontrollieren kann er es nicht. Das Symptom des Wahnsinns ist jetzt ein entmystifizierendes, körperliches Problem, das im seltsamen Kontrast zur restlichen Entwicklung steht und das ein paar Mal zu oft wiederholt wird, dass es durchaus das Potenzial zum Nerven entwickelt – gewollt oder ungewollt.

Mini-Batman bei "Joker"

Ganz ohne Batman bzw. Bruce Wayne kommt zudem auch "Joker" nicht aus: Dass die Figur zwangsläufig in derselben Welt lebt wie der Superheld, ist zwar selbstverständlich. Die konkreten Bezüge, die auf den späteren Verbrechensbekämpfer von Gotham City genommen werden, überraschen aber doch in ihrer Vielzahl und Ausführlichkeit. Dabei wird unter anderem auch ein Aspekt seiner Origin-Story zum x-ten Mal durchgekaut – dieses Mal wird sie als konkrete Folge von Jokers Handeln interpretiert.

Es wirkt ein wenig so, als wollte sich Warner dadurch die Option offenhalten, aus "Joker" ein eigenes filmisches Universum zu machen. Erzählerisch würde es dem Film aber nicht schaden, wenn sich die Verweise auf Bruce auf ein Minimum beschränken würden oder gar nicht erst vorhanden wären – schließlich soll es immer noch in erster Linie um den Joker gehen. Inhaltlich wirkt die Präsenz der Wayne-Familie sogar eher wie eine unnötige Abzweigung, die am Ende des Tages eher Fantheorien befeuert, als dem Film wirklich dienlich zu sein.

Joaquin Phoenix triumphiert

Wenngleich sich einige erzählerische Stolpersteine in "Joker" finden lassen, so werden sie doch von der ersten Sekunde an von Joaquin Phoenix überstrahlt. Der Edelmime überrascht zunächst mit einer physischen Transformation, die glatt Christian Bales Handbuch für Schauspieler-Radikal-Diäten entsprungen sein könnte. Nachdem er noch 2017 in "A Beautiful Day" als traumatisierter Veteran einschüchternde körperliche Präsenz mit Masse und breitem Kreuz an den Tag legte, ist sein Anblick jetzt richtig schockierend: Beinahe nur noch aus Haut und Knochen bestehend läuft er durch jede Szene und in manchen Momenten wirkt seine Statur richtig gruselig, wenn sich zum Beispiel jeder einzelne Rückenwirbel durch die Haut abzeichnet.

Doch Phoenix‘ Darbietung geht weit über seine reine Erscheinung mit oder ohne Clownsschminke im Gesicht hinaus. Wenn er wieder unkontrolliert lacht, sprechen seine gequälten Augen Bände und lassen tief in die gebeutelte Seele von Arthur Fleck blicken. Und der in ihm aufkeimende und letztendlich eskalierende Zorn ist auch deshalb so tragisch, weil Phoenix seine Figur nie als Bösewicht spielt, sondern als Opfer der ihn umgebenden Umstände. Das macht den ganz großen Reiz seiner Interpretation auch aus: So abscheulich seine Taten werden, möchte man ihm mit größtem Mitgefühl begegnen. Zumindest darstellerisch ist jedweder Hype gerechtfertigt und es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn Phoenix nicht zumindest die ein oder andere Auszeichnung erhält.

Geadelt wird "Joker" noch von einer stilsicheren Inszenierung der schmutzigen Straßen Gotham Citys, die Chef-Kameramann Lawrence Sher in gekonnten Totalen und Halbtotalen einfängt und die er in atmosphärisches und mitunter unwirklich anmutendes Licht eintaucht. Dazu ertönen die unheilvollen Klänge von Hildur Guðnadóttirs Partitur. Die Isländerin und ehemalige Kollaborateurin vom mittlerweile verstorbenen Jóhann Jóhannsson schrieb einen insgesamt sehr stimmungsvollen Score, der allerdings beizeiten ein wenig zu laut daherkommt – weniger wäre durchaus mehr gewesen.

Fazit: Trotz kleiner Schwächen hat der "Joker" das letzte Lachen in diesem stark gespielten und sehenswerten Abstieg ins Chaos.