1962 wandten sich junge deutsche Regisseure wie Alexander Kluge und Edgar Reitz mit ihrem "Oberhausener Manifest" von "Papas Kino" ab - und verbannten, so die Kernthese dieser Doku, neben Heimatkitsch und Schlagerfilmen auch Action, Erotik, kurz: das Körperliche aus dem Film. "Waren die Oberhausener wie Jugendliche, die sich vor dem Sex ihrer Eltern ekeln?", fragen nun Dominik Graf, einer der wenigen bedeutenden deutschen Genrefilmer und sein Kollege Johannes F. Sievert.

Sie feiern die Gegenbewegung innerhalb der Gegenbewegung: In temperamentvollen Interviews erzählen Filmemacher wie Klaus Lemke ("Brandstifter") und Roland Klick ("Supermarkt"), Stars wie Mario Adorf sowie Kritiker vom deutschen Genrekino der 60er- und 70er-Jahre, das ein "dreckigeres", jedoch nicht minder wahres Porträt von Deutschland zeigte.

Auch wenn man der These von Graf und Sievert nicht zustimmt: Es lohnt sich, die folgenden deutschen Genrefilme (wieder) zu entdecken:

Schwarzer Kies (1961)

Ein früher Vorläufer des neuen deutschen Genrefilms: Das Thrillerdrama von Helmut Käutner, einem der Starregisseure (und Genrefilmer) der 1940er-Jahre ("Große Freiheit Nr.7") und "Papas Kino" der 50er-Jahre ("Montpi", "Die Zürcher Verlobung").

Käutner der gilt als eines der Opfer des Oberhausener Manifests: Als einer der Regisseur, der schon in der Nazizeit Filme gedreht hat und in der Nachkriegszeit mit angeblich seichten Filmen der Verdrängung der NS-Zeit Vorschub leisten würde.

Bei den 8. Oberhausener Kurzfilmtagen 1962, während denen das berühmte Manifest entstand, wurde "Schwarzer Kies" zum "schlechtestes Leistung eines bekannten Regisseurs" gewählt.
Auch in der Presse kam der Film schlecht weg, der SPIEGEL kritisierte ihn seinerseits bezeichnenderweise als "allzu aktionsfreudige Geschichte".

Mit der Story über einen Kieshändler im Hunsrück, der mit den amerikanischen Besatzern Schwarzmarktgeschäfte machen will, wollte Käutner harten Realismus auf die Leinwand bringen. Erst heute wird diese Leistung angemessen gewürdigt, als Thriller im Stil der zeitgenössischen Genre-Konkurrenten aus den USA oder Frankreich.

48 Stunden bis Acapulco (1967)

Das Filmdebüt von Deutschlands Regie-Bad-Boy Klaus Lemke ("Rocker"): In Rom sollen der ehrgeizige Gauner Frank (Dieter Geissler) und Monika (Monika Zinnenberg), die Tochter eines mächtigen Fabrikanten, für 100 000 Mark Industriegeheimnisse besorgen. Weil Frank der Jetset lockt, lässt er sich von seiner Geliebten Laura (Christiane Krüger) dazu überreden, die Dokumente in Acapulco weiterzuverkaufen...

Ach ja, der unbeschwerte Charme der Sixties: Es ist ein jugendlicher Traum vom Kino, von Hollywood, Gefahr und Abenteuer, der Traum vom "richtigen Sound", den sich der damals 27-jährige Klaus Lemke in seinem Low-Budget-Debüt erfüllt. "Papas Kino" sieht dagegen alt aus - und die Oberhausener blass.

Deadlock (1970)

Heute schwer vorstellbar, aber auch das gab es mal: Einen coolen Western aus Deutschland, jenseits von Karl-May-Schmus und "Potato Fritz"-Klamauk.

Zur Musik der Krautrocker von Can jagt Ausnahmeregisseur Roland Klick Bankräuber Marquard Bohm und Goldgräber Mario Adorf durch die Wüste.

Die stilsichere Mischung aus Gangsterballade und Neo-Western erhielt 1971 das Filmband in Gold und spielt durchaus in einer Liga mit den Italowestern seiner Zeit.

Mädchen mit Gewalt (1970)

Nicht so bekannt wie Roland Klick oder Klaus Lemke, gehört Roger Fritz doch zu den jungen Wilden des neuen deutschen Genrefilms.

Der Titel seines zweiten Films nach dem ebenfalls kultigen "Mädchen, Mädchen" (1967) ist Programm: Klaus Löwitsch und Arthur Brauss spielen zwei Rowdys, die ein Mädchen (Roger Fritzens sexy Muse Helga Anders) in eine Kiesgrube (schon wieder Kies) wo, sie sie notfalls mit Gewalt "erobern" wollen.

"Die Prügelszenen würden jedem Italo-Western zur Ehre gereichen" schrieb damals das Hamburger Abendblatt, die katholische Filmkritik riet ab. 2015 wurde der Film zum DVD-Start von der Kritik rehabilitiert und von FSK 18 auf 16 heruntergestuft.

Nicht fummeln, Liebling (1970)

Klingt wie einer dieser blöden "Aufklärungs"-Filmchen,
ist aber eine Kultkomödie mit Werner Enke, der das Wort "fummeln" schließlich erfunden hat.

Heute ist vor allem "Zur Sache, Schätzchen" von 1968 bekannt, den Enke ebenfalls unter der Regie seiner Lebensgefährtin Mary Spils drehte, aber auch die Quasi-Fortsetzung "Nicht fummeln, Liebling" atmet den Geist der Schwabinger Boheme und erinnert mit ihrer Unbekümmertheit und Anarchie an die französische Nouvelle Vague. 1970 zusammen mit der Disney-Komödie "Ein toller Käfer" der erfolgreichste Film in den deutschen Kinos!

Rocker (1972)

Der immer noch bekannteste Film des letzten deutschen Regie-Romantikers Klaus Lemke:

Nachdem Zuhälter seinen kleinkriminellen Bruder erschlagen haben, irrt der 14-jährige Ausreißer Mark (Hans-Jürgen Modschidler) durch Hamburg. Einen Kumpel findet er in dem frisch aus dem Knast entlassenen Rocker Gerd (Gerd Kruskopf)...

Lemke ließ seinen Laiendarstellern - darunter waschechte Hamburger Rocker - viel Improvisationsfreiheit. Ergebnis: saucoole Slangdialoge ("Du flachst mich nich'!"), authentisches Feeling und ein Stück TV-Geschichte

Für Regisseure wie Dominik Graf war die TV-Erstausstrahlung im ZDF ein Erweckungserlebnis und ein willkommenes Gegengewicht zu den sterilen deutschen Autorenfilmen.

Blutiger Freitag (1972)

Ein Paradebeispiel für den schmutzigen Unterbau der deutschen Genrelandschaft: Der Thriller des berüchtigten Schmuddel- und Klamaukfilmers Rolf Olsen ("Unsere tollen Tanten", "Ein Kaktus ist kein Lutschbonbon").

In einer kriminell engen Lederhose spielt Raimund "Seewolf" Harmstorf einen brutalen Bankräuber und Geiselnehmer, die deutsch-italienische Koproduktion beutet reißerisch die Angst aus, die Anfang der 70er in deutschen Großstädten wegen einer Reihe realer Banküberfälle und dem Terror der RAF grassierte.

Begnadeter Bahnhofskino-Schund, wie er vor allem in Italien zu jener Zeit beliebt war. Viele deutsche Schauspieler, die bei den deutschen Autorenfilmern nicht mehr gefragt wurden, zogen damals über den Brenner.

Supermarkt (1973)

Vielleicht der beste deutsche Genrefilm der 70er-Jahre, auf Augenhöhe mit dem amerikanischen New Hollywoodkino und der französischen Nouvelle Vague: Die Gangsterballade von Roland Klick, für die er das Filmband in Gold gewann.

Angetrieben von der Musik Marius Müller-Westernhagens folgt die entfesselte Kamera von Jost Vacano ("Das Boot") seinem Helden, dem Kleingauner Willi durch die Straßen von St. Pauli. Er verdingt sich als Stricher, buhlt um eine Hure (Eva Mattes), begeht einen Raub - und einen Mord.
Autor: Sebastian Milpetz