Für Norbert Zerwuhn, Manager des Box-Bundesligisten Sparta Flensburg, war's eine Katastrophe. Da hatte er 1995 diesen riesengroßen, hoch talentierten Ukrainer eingekauft, der gerade die Militärweltmeisterschaft gewonnen hatte, und dann bekam der eine Dopingsperre auferlegt und durfte nicht antreten. Die Flensburger Programme waren gedruckt, der Transfer bezahlt, der Manager ratlos.

Er rief in Kiew an. "Macht euch keine Sorgen", hieß es gelassen, "wir haben noch einen, der sieht genauso aus. Den könnt ihr morgen am Flughafen abholen." Tatsächlich stieg am nächsten Tag ein baumlanger Schlaks aus dem Flugzeug, den Manager Zerwuhn verwundert anstarrte. "Wir hatten ja keine Ahnung, dass Vitali Klitschko einen Bruder hat, der ihm auf den ersten Blick so verblüffend ähnlich sieht."

Und so bestritt statt Vitali der fünf Jahre jüngere Wladimir Klitschko fünf Bundesligakämpfe an der Flensburger Förde. Auch bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta sprang der kleine für den großen Bruder ein und machte die Sensation perfekt: Als erster Weißer in der Geschichte des Boxsports holte er die Goldmedaille im Superschwergewicht.

Wie aus dem Brüderpaar die berühmtesten Schwergewichtsboxer der Gegenwart wurden und wie nahe sie sich dabei immer ge­blieben sind, zeigt eine eindrucks­volle Kinodoku (Kritik auf Seite 200), für die Regisseur Sebastian Dehnhardt die Klitschkos zwei Jahre lang begleitet hat.

TV SPIELFILM: Es gibt Filme über die Box­legenden Muhammad Ali und Max Schmeling, jetzt gibt es auch einen Film über Sie beide. Erfüllt Sie das mit Stolz?

VITALI KLITSCHKO Nein. Dazu gibt es keinen Grund. Der Film erzählt doch nur die Geschichte zweier Brüder, die einen Traum hatten und ihn sich erfüllt haben. Der Weg zum Ziel war steinig und hat mitunter bittere Niederlagen für uns bereitgehalten, aber wir sind ihn gemeinsam gegangen. Jetzt hoffen wir natürlich, dass möglichst viele Menschen diese Geschichte spannend finden und ins Kino gehen. Nicht nur Boxfans.

Ihre Eltern, die bisher noch nie ein Interview gegeben haben, sind zentraler Bestandteil dieses Films. Wie lange haben Sie die beiden dazu überreden müssen, mitzumachen?

WLADIMIR KLITSCKO Lange.

VITALI KLITSCHKO Ich habe es ein paar Mal versucht, hatte aber keinen Erfolg. Dann hat es mein kleiner Bruder noch einmal probiert. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie er es geschafft hat, unsere Mutter zu überreden.

Verraten Sie es uns?

WLADIMIR KLITSCKO Wie früher, wenn ich etwas ausgefressen hatte.

VITALI KLITSCHKO Na, da bin ich jetzt aber gespannt.

WLADIMIR KLITSCKO Ich wusste, wenn der Vater abends nach Hause kommt, gibt's mit dem Gürtel ordentlich was auf den Hintern. Natürlich war auch meine Mutter sehr wütend auf mich, aber ich wusste, an ihre Gefühle kann ich appellieren. Also bin ich ins Schlafzimmer gegangen, habe Vaters Gürtel geholt, ihn ihr in die Hand gedrückt und mich mit blankem Popo auf die Couch gelegt. Dann habe ich ihr gesagt, sie solle mich bestrafen. (grinst) Das hat sie natürlich nicht fertiggebracht und sich bei meinem Vater für mich eingesetzt.

VITALI KLITSCHKO (lacht schallend) Aha, dann hast du also die Hosen runtergelassen, damit sie sich für den Film interviewen lässt? Schlauer kleiner Bruder.

Ihr Vater gehörte zu den Offizieren, die 1986 nach dem GAU von Tschernobyl die Rettungsarbeiten koor­di­nierten. Wo waren Sie?

VITALI KLITSCHKO Ich wurde ins Sommer­la­ger geschickt. Wladimir blieb zu Hause in Kiew, nur hundert Kilometer von Tschernobyl entfernt.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit?

WLADIMIR KLITSCKO Wir wussten nicht viel über das, was dort passierte. Abends wurden die Lkw, die aus Tschernobyl kamen, mit Wasserschläuchen abgespritzt, und ich habe in den Pfützen Papierboote fahren lassen.

Ihr Vater ist als Spätfolge dieser Zeit an Krebs erkrankt. Wie geht es ihm heute?

VITALI KLITSCHKO Dank der Kunst deutscher Ärzte geht es ihm gut.

Andere Jungs spielen Fußball, warum wollten Sie beide unbedingt Boxen lernen?

WLADIMIR KLITSCKO (lacht) Er hat angefangen. Ich habe es ihm nur nach­gemacht.

Auch Lamon Brewster wundert sich über Ihre Berufswahl. Er sagt, Sie hätten doch jeden anderen Beruf ergreifen können, schließlich haben Sie beide studiert und promoviert.

VITALI KLITSCHKO Bei den Amerikanern ist Boxen vor allem ein Mittel, aus sozialem Elend herauszukommen und viel Geld zu verdienen. Wir boxen nicht, um reich zu werden, sondern aus sportlichem Ehrgeiz. Wir haben uns das Ziel gesetzt, gleichzeitig Weltmeister zu sein. Das haben wir erreicht.

Na, eine gut dotierte Kampfbörse wird auch Ihren sportlichen Ehrgeiz noch verstärken.

VITALI KLITSCHKO Das will ich gar nicht abstreiten. Aber mich würde Geld allein nicht genug motivieren, um mich körperlich so zu quälen, wie man es tun muss, um eine weltmeisterliche Leistung zu bringen. Ich will der Beste sein. Das ist meine Motivation.

WLADIMIR KLITSCKO Vitali hat ein Kämpferherz. Er ist schon so geboren worden. Ich nicht. Ich bin erst 2005 zum Kämpfer geworden, im Fight gegen Samuel Peter.

Der vielleicht wichtigste Kampf Ihrer Karriere. Ihm vorausgegangen war eine Nieder­lage gegen Lamon Brewster im April 2004. Damals hieß es, Ihre Karriere sei zu Ende.

WLADIMIR KLITSCKO Genau. Aber ich habe mich zurückgekämpft. Mit meinem Trainer Emanuel Stewart studiere ich den Gegner bis ins Detail. Ich will alles über ihn wissen, seine Stär-ken kennen, seine Schwächen. Ich will ihn lesen können wie ein offenes Buch. Ein Kampf wird nicht mit den Fäusten entschieden, sondern im Kopf. Das ist wie beim Schach.

Sie sind also der boxende Schachspieler, Ihr Bruder Vitali dagegen ist eher...

VITALI KLITSCHKO ... der Cowboy. (lacht)

WLADIMIR KLITSCKO Die Leute behaupten immer, wir seien uns so ähnlich, dabei stimmt das gar nicht. Wir haben ganz verschiedene Charaktere, und wir haben auch unterschiedliche Körpereigenschaften und einen ganz unterschiedlichen Background. Schon deshalb, weil Vitali früher Kickboxer war, hat er eine andere Technik.

Nach der Niederlage gegen Brewster hatten Sie den ersten Streit miteinander, und Sie haben Vitali sogar ver­boten, ins Trainingscamp zu kommen.

WLADIMIR KLITSCKO Ich musste das Comeback allein schaffen, und das hat Vitali auch verstanden.

VITALI KLITSCHKO Es war anfangs nur sehr schwer für mich, weil meine Mutter mir früher aufgetragen hat, auf meinen kleinen Bruder aufzupassen. Ich musste ihn ja überall mit hinnehmen. (lächelt) Und weil sie diesen Auftrag bis heute nicht zurückgezogen hat...

...waren Sie beim Comeback-Kampf gegen Peter wieder an der Seite Ihres Bruders.

VITALI KLITSCHKO Natürlich.

WLADIMIR KLITSCKO Das wird auch niemals anders sein. Im Ring steht zwar jeder von uns allein, aber die Gegner wissen genau, dass sie immer gegen beide Brüder antreten müssen.

Was ist schwerer für Sie: selbst zu boxen oder Ihrem Bruder zuzusehen?

VITALI KLITSCHKO Zuzusehen. Weil man nichts tun kann, den Bruder nicht unterstützen kann.

Beim Schwergewichtsboxen kann jeder einzelne Schlag den Kampf entscheiden. Haben Sie eigentlich jemals Angst?

WLADIMIR KLITSCKO Ich habe vor vielen Dingen Angst. Vor Bungee-Jumping zum Beispiel. Bis zu einem gewissen Grad ist Angst sogar förderlich, sie macht dich schneller und aufmerksamer.

Jeder gute Sohn schickt seiner Mutter Blumen zum Muttertag. Sie beide auch?

VITALI KLITSCHKO Natürlich. Ich schicke ihr jedes Jahr einen großen Strauß und bedanke mich bei meiner Mutter dafür, dass sie mir diesen kleinen Bruder geschenkt hat. Ohne ihn wäre mein Leben ganz schön langweilig.

Susanne Sturm

Die Klitschko-Biographie

1985-1991 Vitali, der Kickboxer

Im Militärstützpunkt in der CSSR, wo sein Vater arbeitet, gibt's einen Boxring, wo Vitali übt. Mit dem Umzug nach Kiew 1985 wechselt der 14-Jährige zum Kickboxen, kommt ins Jugendnationalteam. Mit dem reist er 1989 erstmals in die USA. 1991 Kickboxweltmeister in Paris.

1990-1996 In den Fußstapfen des großen Bruders

Anders als Vitali beginnt Wladimir Klitschko direkt mit dem Boxen. Als Amateur gewinnt er 112 Kämpfe, davon mehr als die Hälfte durch K.o., 1994 wird er in Thessaloniki Europameister der Junioren.

Ab 1996 Endlich Profis und bald Weltmeister
Erste Profikämpfe bestreiten sie Ende 1996, in dem Jahr, in dem Vitali heiratet (inzwischen drei Kinder). Er wird 1999 erstmals Weltmeister.

Seit 2000 Herr Doktor Klitschko, bitte

Wladimirs erster WM-Titel folgt 2000, während sein Bruder im gleichen Jahr nach erfolgreichem Sportstudium seinen Doktor macht. Auch das tut Wladimir ihm gleich. Heute halten beide drei der wichtigsten WM-Titel. Ihr Ziel: alle vier Titel. Gegen David Haye am 2. Juli kann Wladimir den Traum wahr machen - wenn er denn bis dahin die Trennung von Schauspielerin Hayden Panettiere im Mai verarbeitet hat.