Wir Deutschen lieben unseren "Tatort", seit 44 Jahren, über 926 Folgen, mal mehr und mal weniger. Das ist eine einfache Wahrheit.
Bemerkenswert aber ist, dass wir ihn zurzeit noch ein bisschen mehr zu schätzen scheinen. "Der Tatort hat derzeit Quoten wie in den 70erJahren, als es fast keine anderen Sender gab", sagt Stefan Scherer. "Wir sind jetzt bei neun oder zehn Millionen Zuschauern im Durchschnitt. Mitte der Nuller-Jahre war noch sieben oder acht der Normalfall."
Scherer hat "Tatort"-Wissen wie kein zweiter. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat der Karlsruher Germanistikprofessor mit zwei Kollegen die Reihe als Ganzes betrachtet. Drei Jahre lang, eine bisher einzigartige Unternehmung.
"Wir haben 500 der rund 900 Folgen nach bestimmten Kriterien untersucht und die Ergebnisse durch eine Datenbank statistisch auswertbar gemacht", sagt Scherer, der zu Hause jede Folge im Schrank stehen hat. Untersucht wurden thematische Aspekte wie etwa die Rolle des Extremismus, der Religion, der Figurendarstellung, die Logik der Polizeireviere, aber auch Bildästhetik, Kameraarbeit und erzählerische Qualität. Die detaillierten Ergebnisse erscheinen im Oktober in Form zweier Bücher ("Zwischen Serie und Werk" von Claudia Stöckinger (Hg.), erschienen bei Transscript, und "Föderalismus in Serie" von Stefan Scherer u. a., Wilhelm Fink Verlag).
Nie war er so wertvoll wie heute
Eine erstaunliche Erkenntnis gibt es aber jetzt schon: Der "Tatort" ist gut wie nie zuvor. Auch wenn es natürlich in der Vergangenheit immer wieder herausragende Folgen gab, der Standard der Reihe war noch nie so hoch wie heute.
Nie zuvor wurden die Grenzen des Formats und des Genres so regelmäßig und intensiv ausgetestet wie heute: mit den ultrakomplexen Filmen eines Dominik Graf, mit den abgedrehten Murot-Fällen, einem "intermedialen Spiel mit popkulturellen Zitaten" (Scherer) oder mit dem "Tatort: Franziska". Die Anfang 2014 gezeigte Episode war die erste, die erst um 22 Uhr lief, da sie wegen der gezeigten Gewalt keine FSK-Freigabe für das Hauptprogramm bekam.
Auch technisch wird der "Tatort" mittlerweile durchgehend auf einem sehr hohen Niveau produziert. "Ab etwa 2000 gibt es einen professionellen Stand in der Kameraführung, Hubschraubereinsatz, Kamera von oben, das haben dann alle drauf", sagt Scherer. "Die Tatorte der NullerJahre sind alle noch aktuell, was Schnitt, Kamera und Flow angeht. Der ‚Tatort‘ ist seitdem auch sehr nah am Kino."
Die Krise der Schimanski-Ära
Die Geschichten sind über die Jahre komplexer und abwechslungsreicher geworden. "Das ,Tatort‘-Schema - nach fünf Minuten wird der Mord gezeigt, dann gibt es Sightseeing, dann bekommt man einen Verdächtigen präsentiert - wird heute nur noch jedes zweite Mal eingehalten, behaupte ich", sagt der Professor.
Der Weg ins goldene "Tatort"-Zeitalter beginnt am 29. November 1970 mit der ersten Folge "Taxi nach Leipzig". Die 70er-Jahre waren zunächst sehr experimentell, Reihen-Highlights wie "Blechschaden" (1971) von Wolfgang Petersen oder "Tote Taube in der Beethovenstraße" (1973) von Samuel Fuller entstehen.
Als das ZDF mit einer ruhigeren Gangart und dem neuen Starermittler Derrick Erfolge feierte, setzte die ARD 1974 den Essener "Tatort"-Ermittler Heinz Haferkamp, gespielt von Hansjörg Felmy, dagegen. Scherer nennt ihn den "Kanzler-Schmidt-Kommissar, der als Beamter im Trenchcoat fragend ermittelt". Er begründet das Joviale und die Volksnähe der WDR-Kommissare.
"Die 80er-Jahre sind das Schimanski-Jahrzehnt", sagt Scherer. "Eine völlig neue Ermittlerfigur, ein Hau-drauf, der ins Milieu verstrickt ist." Ansonsten seien die 80er als "Tatort"-Jahrzehnt aber "öde" gewesen, analysiert der Krimiforscher. "Die anderen ARD-Häuser hatten Probleme, neue Kommissare zu etablieren. Die wussten nicht, was sie der Schimans-ki-Offensive entgegensetzen könnten. Es gab viele Eintagsfliegen." Das Kripoteam löst schließlich den Einzelermittler ab.
In den 90ern erlebt das Fernsehen einen regelrechten Krimiboom, auch weil Privatsender mit Eigenproduktionen ("Kommissar Rex") beginnen. Vom Bayerischen Rundfunk ausgehend, wird die Qualität des "Tatort" verbessert, um sich von der Massenware abzusetzen. Zwischendurch laufen auch wieder sehr experimentelle Folgen. "Dominik Graf dreht mit ,Frau Bu lacht‘ einen der besten ‚Tatorte‘ aller Zeiten", sagt Scherer. Die Videoclipästhetik ist modern, auch beim "Tatort" wird nun schneller geschnitten.
Krimi darf auch komisch sein
Das Privatleben der Kripoleute nimmt in den Nuller-Jahren größeren Raum ein. Parallel dazu treten laut Scherer auch die weiblichen Ermittler in den Vordergrund, wie die alleinerziehende Kommissarin Lindholm. Das Private spielt auch bei Börne und Thiel eine große Rolle. Das Münsteraner Duo bringt ab 2002 eine klamaukig-komische Farbe in die Krimireihe. Inspiriert von US-Serien wie "CSI" rückt der Job des Pathologen stärker in den Fokus. Die Zuschauer werden nun stärker mit dem Anblick von Leichen konfrontiert. Die Bildsprache verlangsamt sich wieder.
Ab 2010 ist die Actiondramaturgie ein hervorstechendes Merkmal. Das bahnt sich im Stuttgarter Tatort an, und im Norden macht Til Schweiger den ersten puren Actionfilm.
Und in Zukunft? Die Bedeutung des "Tatort" wird wohl noch weiter steigen. Am 13. Dezember lässt das ZDF in Nürnberg zum letzten Mal "Wetten, dass...?" über die Bühne gehen. Sieht man von Nachrichtensendungen und periodischen Sportevents ab, ist der "Tatort" dann das wichtigste Gemeinschaftserlebnis der deutschen Fernsehnation.
Dass der Aufmerksamkeitswert oben bleibt, dafür sorgen auch immer wieder prominente Neubesetzungen, die den Sonntagskrimi im Gespräch halten: solche wie Mark Waschke und Meret Becker, die ab 2015 in Berlin ermitteln. Oder Fabian Hinrichs und Dagmar Manzel, die im neuen Franken-"Tatort" aus Nürnberg zu sehen sein werden. Drehstart für den ersten Fall "Der Himmel ist ein Platz auf Erden" (Regie: Max Färberböck) ist der 26. August. Gute Aussichten.
Frank I. Aures
Bemerkenswert aber ist, dass wir ihn zurzeit noch ein bisschen mehr zu schätzen scheinen. "Der Tatort hat derzeit Quoten wie in den 70erJahren, als es fast keine anderen Sender gab", sagt Stefan Scherer. "Wir sind jetzt bei neun oder zehn Millionen Zuschauern im Durchschnitt. Mitte der Nuller-Jahre war noch sieben oder acht der Normalfall."
Scherer hat "Tatort"-Wissen wie kein zweiter. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat der Karlsruher Germanistikprofessor mit zwei Kollegen die Reihe als Ganzes betrachtet. Drei Jahre lang, eine bisher einzigartige Unternehmung.
"Wir haben 500 der rund 900 Folgen nach bestimmten Kriterien untersucht und die Ergebnisse durch eine Datenbank statistisch auswertbar gemacht", sagt Scherer, der zu Hause jede Folge im Schrank stehen hat. Untersucht wurden thematische Aspekte wie etwa die Rolle des Extremismus, der Religion, der Figurendarstellung, die Logik der Polizeireviere, aber auch Bildästhetik, Kameraarbeit und erzählerische Qualität. Die detaillierten Ergebnisse erscheinen im Oktober in Form zweier Bücher ("Zwischen Serie und Werk" von Claudia Stöckinger (Hg.), erschienen bei Transscript, und "Föderalismus in Serie" von Stefan Scherer u. a., Wilhelm Fink Verlag).
Nie war er so wertvoll wie heute
Eine erstaunliche Erkenntnis gibt es aber jetzt schon: Der "Tatort" ist gut wie nie zuvor. Auch wenn es natürlich in der Vergangenheit immer wieder herausragende Folgen gab, der Standard der Reihe war noch nie so hoch wie heute.
Nie zuvor wurden die Grenzen des Formats und des Genres so regelmäßig und intensiv ausgetestet wie heute: mit den ultrakomplexen Filmen eines Dominik Graf, mit den abgedrehten Murot-Fällen, einem "intermedialen Spiel mit popkulturellen Zitaten" (Scherer) oder mit dem "Tatort: Franziska". Die Anfang 2014 gezeigte Episode war die erste, die erst um 22 Uhr lief, da sie wegen der gezeigten Gewalt keine FSK-Freigabe für das Hauptprogramm bekam.
Auch technisch wird der "Tatort" mittlerweile durchgehend auf einem sehr hohen Niveau produziert. "Ab etwa 2000 gibt es einen professionellen Stand in der Kameraführung, Hubschraubereinsatz, Kamera von oben, das haben dann alle drauf", sagt Scherer. "Die Tatorte der NullerJahre sind alle noch aktuell, was Schnitt, Kamera und Flow angeht. Der ‚Tatort‘ ist seitdem auch sehr nah am Kino."
Die Krise der Schimanski-Ära
Die Geschichten sind über die Jahre komplexer und abwechslungsreicher geworden. "Das ,Tatort‘-Schema - nach fünf Minuten wird der Mord gezeigt, dann gibt es Sightseeing, dann bekommt man einen Verdächtigen präsentiert - wird heute nur noch jedes zweite Mal eingehalten, behaupte ich", sagt der Professor.
Der Weg ins goldene "Tatort"-Zeitalter beginnt am 29. November 1970 mit der ersten Folge "Taxi nach Leipzig". Die 70er-Jahre waren zunächst sehr experimentell, Reihen-Highlights wie "Blechschaden" (1971) von Wolfgang Petersen oder "Tote Taube in der Beethovenstraße" (1973) von Samuel Fuller entstehen.
Als das ZDF mit einer ruhigeren Gangart und dem neuen Starermittler Derrick Erfolge feierte, setzte die ARD 1974 den Essener "Tatort"-Ermittler Heinz Haferkamp, gespielt von Hansjörg Felmy, dagegen. Scherer nennt ihn den "Kanzler-Schmidt-Kommissar, der als Beamter im Trenchcoat fragend ermittelt". Er begründet das Joviale und die Volksnähe der WDR-Kommissare.
"Die 80er-Jahre sind das Schimanski-Jahrzehnt", sagt Scherer. "Eine völlig neue Ermittlerfigur, ein Hau-drauf, der ins Milieu verstrickt ist." Ansonsten seien die 80er als "Tatort"-Jahrzehnt aber "öde" gewesen, analysiert der Krimiforscher. "Die anderen ARD-Häuser hatten Probleme, neue Kommissare zu etablieren. Die wussten nicht, was sie der Schimans-ki-Offensive entgegensetzen könnten. Es gab viele Eintagsfliegen." Das Kripoteam löst schließlich den Einzelermittler ab.
In den 90ern erlebt das Fernsehen einen regelrechten Krimiboom, auch weil Privatsender mit Eigenproduktionen ("Kommissar Rex") beginnen. Vom Bayerischen Rundfunk ausgehend, wird die Qualität des "Tatort" verbessert, um sich von der Massenware abzusetzen. Zwischendurch laufen auch wieder sehr experimentelle Folgen. "Dominik Graf dreht mit ,Frau Bu lacht‘ einen der besten ‚Tatorte‘ aller Zeiten", sagt Scherer. Die Videoclipästhetik ist modern, auch beim "Tatort" wird nun schneller geschnitten.
Krimi darf auch komisch sein
Das Privatleben der Kripoleute nimmt in den Nuller-Jahren größeren Raum ein. Parallel dazu treten laut Scherer auch die weiblichen Ermittler in den Vordergrund, wie die alleinerziehende Kommissarin Lindholm. Das Private spielt auch bei Börne und Thiel eine große Rolle. Das Münsteraner Duo bringt ab 2002 eine klamaukig-komische Farbe in die Krimireihe. Inspiriert von US-Serien wie "CSI" rückt der Job des Pathologen stärker in den Fokus. Die Zuschauer werden nun stärker mit dem Anblick von Leichen konfrontiert. Die Bildsprache verlangsamt sich wieder.
Ab 2010 ist die Actiondramaturgie ein hervorstechendes Merkmal. Das bahnt sich im Stuttgarter Tatort an, und im Norden macht Til Schweiger den ersten puren Actionfilm.
Und in Zukunft? Die Bedeutung des "Tatort" wird wohl noch weiter steigen. Am 13. Dezember lässt das ZDF in Nürnberg zum letzten Mal "Wetten, dass...?" über die Bühne gehen. Sieht man von Nachrichtensendungen und periodischen Sportevents ab, ist der "Tatort" dann das wichtigste Gemeinschaftserlebnis der deutschen Fernsehnation.
Dass der Aufmerksamkeitswert oben bleibt, dafür sorgen auch immer wieder prominente Neubesetzungen, die den Sonntagskrimi im Gespräch halten: solche wie Mark Waschke und Meret Becker, die ab 2015 in Berlin ermitteln. Oder Fabian Hinrichs und Dagmar Manzel, die im neuen Franken-"Tatort" aus Nürnberg zu sehen sein werden. Drehstart für den ersten Fall "Der Himmel ist ein Platz auf Erden" (Regie: Max Färberböck) ist der 26. August. Gute Aussichten.
Frank I. Aures