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VHS: Eine kurze Geschichte der Videokassette

VHS: Eine kurze Geschichte der Videokassette
Imago

Vor 50 Jahren begann der Siegeszug der Videokassette. Es schlug die Stunde der Videotheken, B-Movies, Heimkinos und enthusiastischen Sammler.

Das obskure Objekt der Begierde ist aus schwarzem Plastik, 18,7 Zentimeter lang, 10,3 Zentimeter breit und 2 Zentimeter dick. Alles andere als attraktiv, aber für Filmfans war die Videokassette in den Achtzigern der Schlüssel zur Freiheit: Endlich konnte man Filme im Fernsehen aufnehmen, sie speichern, sammeln und mit ­anderen tauschen.

Die Technik war nicht neu. Am 30.11.1956 hatte der US-Sender CBS erstmals eine Nachrichtensendung auf Magnetband auf­gezeichnet. Allerdings wog eine Spule damals 15 Kilo, und für den Rekorder VRX-1000 verlangte die Firma Ampex satte 50 000 Dollar. Es sollte noch 20 Jahre dauern, bevor die ersten Geräte für pri­vate Konsumenten auf den Markt kamen. Interessenten standen in den Siebzigern vor der Qual der Wahl: Betamax, Video 2000 oder VHS? Testberichte bescheinigten den ersten beiden bessere Bild­qualität, durchgesetzt hat sich aber das System der japanischen Firma JVC, das Video Home System, kurz VHS.

Sex, Horror und Aerobic sind die Triebkräfte der Videowelt

Foto: GettyImages
Hartnäckig hält sich das Gerücht, die Sexindustrie habe Betamax und Video 2000 den tödlichen Stoß versetzt, weil sie ihre Schmuddelfilme nur im VHS-Format anbot. Vermutlich schreckten eher die höheren Preise die Verbraucher ab. Tatsache aber ist, dass die Erotikbranche Ende der Siebziger die Verbreitung von VHS beschleunigte, so wie heute Studios wie VirtualRealPorn bei der Einführung von Virtual Reality mit Datenbrillen kräftig mitmischen.

Video öffnete das Tor für alle Arten von Unterhaltung, die nach den Maßstäben der Hochkultur minderwertig oder anrüchig ­waren. Vor allem der Horrorfilm profitierte von dem neuen Medium. "Gesichter des Todes" (1978), ein verstörender Mix von realen und fiktiven Gewaltszenen, fand mehrere Hunderttausend Käufer. "Bloody Moon" und "Die Rückkehr der lebenden Leichen" wurden ebenfalls Videobestseller. Ein Großteil der 2700 VHS-Kassetten aus den Jahren 1978 bis 1985, die im Videoarchiv der Yale-Universität stehen, sind Trashklassiker wie "The Zombie Child". Daneben entstanden neue Formate, die speziell für das Medium entwickelt wurden, darunter die Aerobicvideos von Jane Fonda oder Unterhaltungsfilme für gelangweilte Haustiere.

Mitte der Achtziger besaßen zwölf Millionen Deutsche einen Videorekorder. Es gab hierzu­lande fast 5000 Videotheken, die mehr Umsatz als die Kinos machten, auch weil sie ihr Angebot auf Mainstreamfilme umgestellt hatten. Selbst "E. T." erschien auf ­Video, obwohl Regisseur Steven Spielberg sich dagegen gesträubt hatte. Aber der Druck der Film­industrie war zu groß. Sie witterte im Verkauf von Lizenzen für die Videoauswertung ein Milliardengeschäft.
Trotz der großen Umsätze und Preisen zwischen 40 und 80 Mark für Kaufkassetten in den Achtzigern war Video nie so glamourös wie Kino. Videotheken hatten oft den Charme von Spielhallen. Es roch muffig, der Teppich war ­versifft, und im grellen Licht der Neonröhren sah selbst ein Papp­aufsteller von Tom Cruise wie die Requisite eines Zombiefilms aus. Meistens griff man sich rasch den Film seiner Wahl, nahm noch ­eine Tüte Chips mit und sah zu, dass man nach Hause kam.

Mehr Spaß machte es, Filme aufzunehmen und im Freundeskreis zu tauschen. In den Dritten Programmen liefen damals noch jede Menge Klassiker von Bergman bis Truffaut. Die fanden ­bequem auf einer Kassette mit 180 Minuten Platz.

Bis zur Jahrtausendwende konnte sich die VHS noch gegen die DVD behaupten. 2002 wurden in Deutschland erstmals mehr Scheiben als Kassetten verkauft, zehn Jahre später war die bespielte Kaufkassette praktisch tot. Im Sommer 2016 lief in Japan, wo alles angefangen hatte, der letzte Videorekorder vom Band. Doch wahre Fans wissen sich zu helfen: Apps wie Retro-VHS verleihen jeder digitalen Aufnahme den geliebten Schrabbellook. Fehlt eigentlich nur noch der simulierte Bandsalat.

Einmal schnell die Zeit zurückgespult

Foto: GettyImages
TV Spielfilm-Mitarbeiter erinnern sich an ihr Leben mit der Kassette, an Abenteuer in Videotheken und Horrorfilme ohne Schnitte.

Christian Holst, 48

Wir waren fünfzehn, drei Jungs und ­hatten uns in unserer Kleinstadtvideothek "Das Leben des Brian" ausgeliehen. Gerade als Brian vor Pilatus "zu Poden" ging, wurde der Bildschirm schwarz. Ein unheilvolles Knirschen drang aus dem Rekorder. Scheiße! Irgendwie kriegten wir die Kassette aus dem Gerät gefummelt, doch als sie vor uns auf dem Teppich lag, hing ein zum Knäuel verdrehtes Band raus wie Eingeweide aus einer überfahrenen Katze. "Das wird teuer!", sagte Flo mit tonloser Stimme. "Ach was", antwortete Andy, und klappte sein Schweizer Taschenmesser auf. Er schraubte die Kassette auf. Ich hielt die Spulen in Position, während Andy mehrere Meter Band ­herausschnitt und die losen Enden mit Tesa zusammenklebte. Flo leuchtete aus irgendeinem Grund mit einer ­Taschenlampe. Es war wie eine Operation am offenen Herzen. Mir fiel die Aufgabe zu, die Kassette zurückzubringen. "Alles klar?", fragte der Typ hinter dem Tresen. Ich brachte ein heiseres "Hmhm" hervor, zahlte und ging. In den nächsten zwei Wochen rechnete ich täglich damit, dass die Polizei bei uns klingeln würde, stellte mir vor, wie Uniformierte mir einen transparenten Plastikbeutel mit der Kassette drin vor die Nase halten: "Na, kommt dir die irgendwie bekannt vor, Bürschchen?" Das einzige Nachspiel blieb jedoch, dass sich keiner von uns dreien je wieder in die Videothek traute. Zum Glück machte bald eine neue auf. Das Video-Zeitalter hatte gerade erst begonnen.

Volker Bleeck, 51

Meine erste Kauf-VHS war "Die Klapperschlange", schon damals über Versandhandel bestellt. Das Cover ­habe ich mir viele Jahre später bei ­einem Interview von Regisseur John Carpenter signieren lassen. Seine Reaktion: "You have good taste." Für "Zurück in die Zukunft" konnte man sich in der Videothek in lange Listen eintragen, um dann irgendwann die ausrangierten Kassetten kaufen zu dürfen.

Peter Roether, 46

Ich bin stolzer Besitzer eines DVD-Players, kombiniert mit VHS-Lauf-werk - ein Wunderding, mit dem man seine alten Kassetten auf Scheiben brennen kann. Kürzlich hat der DVD-Teil des Geräts leider seinen Geist aufgegeben. In all den Jahren hatte ich nicht eine meiner sorgfältig aufgenommenen VHS-Filme DVD-gepimpt - geschweige denn eine Kassette noch mal angesehen. Nun sah ich die Chance, mich von all den Staubfängern zu trennen und endlich in der neuen Welt anzukommen. Meine Idee, vorher all meine Filme ein letztes Mal anzuschauen, ließ ich fallen, nachdem ich bei Louis Malles "Auf Wiedersehen, Kinder" mit dem Gesicht am Fern­seher klebte, um zwischen dem Gehakel und Gegrissel überhaupt noch etwas zu erkennen. Also auf den Müll mit dem ganzen Krempel. Ich habe das Gerät dann doch erst mal in den Keller getragen und die Kassetten dazugesellt. Man weiß ja nie.

Lena Völkening, 25

Immer wenn wir allein fernsehen durften, haben meine Brüder und ich die "Herr der Ringe"-Filme geschaut. Und zwar nach diesem Schema: Bei einer halben Stunde Zeit packten wir wahllos eine der drei Videokassetten in den Rekorder und guckten einfach da weiter, wo wir das letzte Mal stehen geblieben waren. Das war ja der Vorteil bei VHS: Hält man das Band an, hält auch der Film an. So habe ich in meiner Kindheit die Hobbit-Saga quasi in einer großen Endlosschleife geguckt.

Heiko Schneider, 53

Nachdem sich die Videoanbieter erst mal mit Splatterfilmen der besonders harten Art ("Man Eater", "Maniac") 'ne goldene Nase verdient hatten, geriet schnell das ganze Horrorgenre in Verruf und auf den Index. Das führte auf dem deutschen Videomarkt zu wahren Zensurorgien bei der kleinsten Andeutung von Gewalt (auch in Thrillern und Actionfilmen), die der geneigte Fan nur umgehen konnte, indem er sich die ungeschnittenen Versionen der Filme im Ausland besorgte. Ich kannte jemanden nah der niederländischen Grenze. Dort gab's Horror auf VHS ungeschnitten, meist sogar jugendfrei und im Originalton. Der Bekannte überspielte mir die Filme. Manchmal fertigte er auch Kopien seiner Kopie an. Die Bilder auf diesen VHS-Kopien dritter Hand waren total unscharf, verwaschen, verrauscht. Eigentlich unsehbar. Aber man hatte das ungekürzte Original im Regal. Das zählte. Eine Trophäe.

Andreas Rolf, 57

Die späten Achtziger waren dank VHS die Blütezeit des B-Actionfilms. Als Redakteur einer Videozeitschrift habe ich damals mehr Actiontrash ­gesehen, als für einen Menschen gut sein kann. Chuck Norris, Dolph Lundgren, Jean-Claude Van Damme oder Michael Dudikoff waren meine Freunde. Meistens gingen sie als "Spezialeinheit" oder Einmannarmee gegen philippinische Dschungelkrieger oder kolumbia­nische Drogenbosse vor. Stets hatte das gegelte und Sonnenbrille tragende Gesindel die Ehefrau des Helden auf dem Gewissen und seine Kinder gekidnappt. Dann kam Van Damme und löschte mit ­einem Tritt alle aus. Seine Verwundung durch die Handgranate - nicht so schlimm.