"Bist du sicher, dass du deinen Vater wirklich kennst?" Joe Jessen meint: Ja. Doch vermutlich ahnt er schon in diesem Moment, dass er sich da bei weitem nicht mehr so sicher sein kann. Immerhin hat die Frage eine Frau gestellt, die überraschend am Krankenbett seines Vaters sitzt und von sich behauptet, mit ihm in einer Ehe zu leben. "Mein Vater ist schon verheiratet", entgegnet Jessen empört. "Ich weiß", erwidert die Unbekannte ruhig.
Es ist der Anfang eines Falls, der für Psychiater Jessen einmal mehr persönlich wird. Persönlicher vielleicht denn je, weil es ans Eingemachte geht. Er muss vielleicht seine Familienhistorie umschreiben, das Verhältnis zu seinem Vater aufarbeiten - und will ganz nebenbei auch noch einen Mordanschlag auf den alten Mann aufklären. Das ZDF zeigt den achten Fall der Reihe "Neben der Spur" am Montagabend ab 20.15 Uhr. Episodentitel: "Die andere Frau".
Die Thriller sind angelehnt an Romane von Michael Robotham, die Handlung versetzt ins graue Hamburg. Blaustichig und düster sind die Bilder, die dort im Hier und Jetzt spielen. Ein starker Kontrast zu den warmen, lichtdurchfluteten Retrospektiven, die in Joe Jessens Kindheit zurückführen. Sie zeigen in Fetzen ein Familienporträt, das für den kleinen Jungen damals sicher nicht immer einfach war.
Neben der Spur: Hauptfigur muss Familiengeschichte aufarbeiten
Seit 2015 zeigt das ZDF in loser Reihenfolge die Filme um Ulrich Noethen in der Hauptrolle und Jürgen Maurer als Kommissar Vincent Ruiz. Um die sechs Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen schalteten immer ein. Bei Folge sieben vor gut einem Jahr waren es sogar mehr als acht Millionen. Hält auch jetzt wieder die Corona-Pandemie viele am Abend zu Hause und vor dem heimischen Fernseher?
Zu sehen bekommen sie eine Hauptfigur, die in Windeseile die eigene Geschichte und die des Vaters aufarbeiten muss. Ist Jessen trotz oder wegen ihm zu dem geworden, was er heute ist? Lief in dessen wohltätiger Stiftung alles mit rechten Dingen ab? Was ist mit Steuerbetrug und Geldwäsche in Millionenhöhe? Wer ist die Frau, die seit 20 Jahren mit dem Vater zusammenlebte, Urlaube verbrachte und in all jene Ecken längst eingezogen zu sein scheint, für die sich der Sohn jahrelang nicht wirklich interessiert hat? Welches Spiel treibt sie, treibt sie überhaupt eins? Wie kam ihr erster Mann ums Leben? Und was wusste die eigene Mutter, die auf 60 Jahre Ehe zurückblickt?
Noch verworrener wird die Geschichte, weil zu der Unbekannten ein Sohn gehört, der sich ebenfalls auf bedrohliche Weise in Jessens Leben einmischt. Und auch die langjährige Anwaltskanzlei der Familie steht plötzlich nicht mehr geschlossen auf deren Seite.
Durch den Zusammenschnitt aus Rückblenden, ruhigen Gesprächen und rasanten Szenen einer Flucht bei einem Polizeieinsatz entsteht ein abwechslungsreicher Film, der aber erst in der zweiten Hälfte so richtig an Fahrt und Spannung aufnimmt (Buch und Regie: Josef Rusnak). Bis dahin kann das Publikum mitgrübeln, wie die aufgeworfenen Fragen wohl am Ende zu beantworten sein werden.
Am irritierendsten ist dabei vielleicht das, was in den anderthalb Stunden selbst gar nicht groß thematisiert wird: Wie kann es schon rein rechtlich sein, dass der Vater über zwei Jahrzehnte mit zwei Frauen verheiratet war? Und wie sind die Besuchszeiten in Hamburgs Krankenhäusern, dass sich niemand über nächtliche Gäste wundert?