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"Jenke Crime" enttäuscht: ProSieben-Doku ähnelt einem VHS-Kurs für Cyberkriminalität

Jenke von Wilmsdorff
Jenke von Wilmsdorff IMAGO / Future Image

In "Jenke. Crime" setzt sich TV-Journalist Jenke von Wilmsdorff diesmal mit Häftlingen buchstäblich an einen Tisch. Und lässt sich von ihnen erklären, wie das denn so geht mit Einbruch, Überfall, Cyberkriminalität. Ein TV-Format von erschreckender Naivität und fehlendem Täterbewusstsein.

Jenke von Wilmsdorff hat in seinem Leben als furchtloser Factual-Journalist schon Vieles gemacht. Er fuhr mit Flüchtlingen auf einem Boot nach Lampedusa, hat für die Quote und Erkenntnis erst nur Fleisch und dann keines mehr gegessen, hat Drogen genommen und sich schließlich ein paar Jahre jünger operieren lassen. Eigentlich hätte man also bei der neuen Reihe "Jenke. Crime" erwarten können, dass er nun höchstselbst zum Gesetzesbrecher wird. Doch das überlässt er lieber den Profis. 

Leuten wie Martin zum Beispiel. Martin ist beschuldigt, der bislang größte Cyberverbrecher der deutschen Geschichte zu sein. Seit 28. April steht er vor Gericht; die Anklage: lautet auf bandenmäßigen Drogenhandel und Veruntreuung. Im Darknet hat Martin gut drei Jahre lang die illegale Verkaufsplattform Wall Street Market betrieben, auf der jede Menge illegale Waren ­–– Drogen, gefälschte Pässe, Waffen – verkauft wurde. Zum Schluss war Wallstreet Market das zweitgrößte Darknet-Handelsplattform weltweit. Und Martin etwas wie der Jeff Bezos des Darknet. 

Wie wird ein netter Elektroniker, Vater eines Buben, zum Cyberkriminellen? Das will Jenke uns in dieser Folge erklären. Dafür reiht er Fakten und Fotos aneinander, befragt Zeugen und diverse Experten. Um – Achtung: Spoiler! – letztendlich doch nur eine altbekannte Wahrheit herauszubekommen: Gier frisst Hirn. 

Aufgewachsen ist Martin in Tauberbischofsheim, gemütliches Fachwerk, urdeutsche Heimat. Ein gutaussehender Junge, der schon früh die dunklen Seiten des WWW für sich entdeckt: das Darknet, die Unterwelt des Cyberspaces. Was mit Neugier beginnt, schlägt irgendwann um in Habgier: In den dunklen Ecken ist deutlich mehr Geld zu machen als in der sichtbaren Welt.

Jenke lässt sich von Experten wie ein staunender Tourist durchs Darknet führen: "Das ist Heroin?", fragt er verblüfft und zeigt mit dem Finger aufs Display. Aber auch Impfstoff gegen Corona kann man hier kaufen: "Was kostet die Dosis, 39 Dollar?" Das hätte mal jemand Jens Spahn Anfang des Jahres stecken sollen. 

Ein bisschen ist "Jenke. Crime" wie ein VHS-Kurs für Cyberkriminalität: Ins Darknet zu kommen sei kinderleicht, heißt es, denn die dafür nötige Software sei öffentlich zugänglich. Im Umgang mit anderen Kriminellen bitteschön keine persönlichen Daten herausgeben, nur den Nickname. Und immer schön die virtuellen Spuren hinter sich verwischen. 

"Ich wusste, das kann nicht ganz legal sein", sagt Martin vorsichtig. Doch das schiebe man weg. Das Familienleben? Lief an ihm vorbei. Im Morgendunkel arbeitet er im Darknet, dann schließt er seinen Tagesjob an. Danach Fitness-Training – und wieder ab ins Darknet. Eine Stunde habe er damals pro Tag mit seiner Familie verbracht. Die Freundin will trotzdem nichts davon mitbekommen haben. Kann man ihr glauben, muss man aber nicht. 

Jenke sieht Martin als reuigen Sünder

Martin verdient sehr schnell sehr viel Geld. Acht Millionen Euro sind es zum Schluss. Geld, das aber erst einmal legalisiert werden muss. Und eben das wird ihm zum Verhängnis: Der Wechsel von Bitcoin zu Euro lässt sich zu seinem Mailkonto nachverfolgen. "Das war Routine, Unachtsamkeit, Faulheit", urteilt er. "Dumm auf jeden Fall." Zuschauer, die Jenkes TV-Einführungskurs in die Cyberkriminalität gebucht haben, sollten sich diese Lektion also zu Herzen nehmen.

Über die Konsequenzen seiner Plattform hat Martin nie nachgedacht. Sagt er zumindest. Für die Läuterung bringt Jenke ihn also zusammen mit einem Moderator, dessen virtuelle Identität gestohlen, vermutlich im Darknet verkauft und für Cyberbetrügereien verwendet wurde. Martin sagt, dies sei für ihn "komplett erschreckend". Man muss schon sehr naiv oder Jenke sein, um ihm das abzunehmen. 

Bereits Ende 2017 wird international gegen Wallstreet Market ermittelt. Im Frühling 2019 wird Martin festgenommen, abends vor dem Haus. "Scheiße", dachte er nur, als er in Handschellen auf dem Boden lag. 

Zum Täter wurde Martin schlicht, weil er es konnte. Weil ihn technisch gereizt hatte, was er im Darknet vorfand. Und weil er das ganz große Geld machen wollte, auch wenn er dieses – Ironie der Cyberwelt – im realen Leben kaum ausgeben konnte. Um die Folgen seines Tuns hatte Martin sich – wie wohl die meisten Kriminellen – keine Gedanken gemacht. So einfach ist das. 

Jenke aber will das nicht wahrhaben, sondern Martin partout als den reuigen Sünder sehen. Nach den fünf Minuten fürs Opfer geht es danach ausschließlich darum, was das jetzt mit Martin macht. Und mit der Freundin. Und dem Sohn. Als sei letztendlich die deutsche Justiz die Böse in diesem Spiel. Martin gibt semi-überzeugend den besorgten Vater und Lebenspartner. Und Jenke? Gibt sich damit zufrieden. 

Kriminelle wie du und ich: Es ist schwer zu ertragen, wie sich TV-Chamäleon Jenke an dieKnackis heran wanzt. 57 Jahre Haft in Summe sitzen da am Crime-Stammtisch, erzählt er stolz. Die Profis in Sachen Gesetzesübertretung geben Martin noch ein paar Tipps mit auf den Weg in den Knast: Nichts leihen, nichts verleihen, keine Bilder vom Kind aufhängen. Siebeneinhalb Jahre fordert die Staatsanwaltschaft für Martin. Jenke würde ihn vermutlich freisprechen.

Der Artikel "Jenke Crime" enttäuscht: ProSieben-Doku ähnelt einem VHS-Kurs für Cyberkriminalität wird veröffentlicht von FOCUS online.