Die Geschichte des 100-Milliarden-Dollar-Imperiums, das gerade dabei ist, zum Weltprogrammdirektor aufzusteigen, ist eines der großen Wirtschaftsabenteuer des Millenniums. Ihr Protagonist ist Reed Hastings, damals 36, ein Erziehungswissenschaftler mit unklarem Karriereplan, aber viel Elan und einem Faible für Mathe, Computer und Filme. Seit er sich über die 40 Dollar Verzugsgebühr für ein geliehenes Video ("Apollo 13") geärgert hat, geht ihm die Idee eines Onlineversandhandels für Leih-DVDs nicht mehr aus dem Kopf.

Das Geschäftsmodell ist simpel: Man bestellt auf einer Website die DVD, die tags darauf in der Post liegt. Für die Rücksendung verlangt der rote Prepaid-Zwei-Wege-Umschlag vom Kunden nichts weiter, als ihn einzuwerfen. Maximal drei Filme enthält ein Brief. Der Deal: Du kannst die Scheiben behalten, solange du magst, aber neue gibt es erst, wenn die alten retour sind. Die Rechnung: 20 Dollar pauschal im Monat. Der Reiz: Für Nerds, die es auf zwölf Ausleihungen à drei Filme in vier Wochen bringen, reduziert sich die Leihgebühr auf einen halben Dollar pro Film, in der Videothek kostet er vier.

Netflix: Hunderte Millionen User-Ratings

Amerikaner sind Neuem gegenüber generell aufgeschlossen. Es mag daran liegen und am Zögern der Konkurrenz, dass Netflix die ersten Jahre überlebt. Mit im Silicon Valley geliehenen 50 bis 60 Millionen Dollar startet 1999 das Subskriptionsmodell, die Clubmitgliedschaft.
10 000 Filme auf Silberscheibe liegen bereit. Zu der Zeit besitzt gerade mal jeder zwanzigste US-Haushalt ­einen DVD-Player. Netflix werde ein Nischengeschäft bleiben, unkt der Hauptrivale, die Videokette Blockbuster. Als er 2004 das Modell kopiert, hat Netflix bereits 2,5 Millionen Kunden, 40 000 Titel im Angebot und mehr als 20 Auslieferungszentren im ganzen Land. 2006 sind es 40 Standorte, die rund 700 Millionen kleine rote Umschläge im Jahr ins weite Nordamerika hinaus­schicken. Die perfektionierten Sortiermaschinen schaffen 5000 Umschläge in der Stunde, und der Service, heißt es, sei tadellos. Schickt ein Kunde versehentlich eine DVD zurück, die nicht Netflix gehört, sondern ihm selbst, hat er sie am nächsten Tag wieder.

Bleibt das generelle Problem aller Internetanbieter: Wie präsentiere ich meine Ware einem Onlinekunden, der keinen Schaufensterbummel ­machen, nichts anfassen und keinen Fachverkäufer um Rat fragen kann? Wie gebe ich ihm das gute Gefühl, im Ozean der Filme nicht im Trüben zu fischen, sondern eine rationale Wahl zu treffen? Netflix lässt das die Kunden selbst erledigen, in Form von Kommentaren und Filmbewertungen mit Sternchen. Nach sieben Jahren Betrieb kommen Hunderte Millionen User-Ratings zusammen. Ein Goldschatz an Kundenwissen, von dem noch niemand ahnt, wie wertvoll er einmal werden würde.

Das Werkzeug zur Aufbereitung des informativen Chaos liefert der Rechner. Schon seit 2000 operiert Netflix mit seinem Algorithmus namens Cinematch. Das Programm beherrscht das "kollaborative Filtern", es stellt Korrelationen zwischen Ware und Konsument in unendlicher Zahl her. Cinematch sieht keine Filme und kennt keine Menschen, weiß aber, wie groß der Kundenkreis ist, der "Der Zauberer von Oz" und "Das Schweigen der Lämmer" geliehen hat, und liegt wohl nicht falsch in der Annahme, dass es sich bei diesen Abonnenten um Familien handelt, wo die Kinder das eine schauen, der Papa das andere. Cinematch weiß auch, welche Actionfilme, die nicht vom Krieg handeln, Fans von "Pearl Harbor" ­favorisieren ("I, Robot"). Cinematch spielt Möglichkeiten durch und ge­neriert Empfehlungen.

Ganz unbemerkt vollzieht sich mit dem Netflix-System auch ein film­kutureller Wandel. Hat ein cinephiler Mensch vielleicht ein paar Dutzend Filme auf seiner Watchlist, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie abgearbeitet ist und seine Bestellfrequenz abnimmt. Der Algorithmus arbeitet mit einem Dauerfeuer an Tipps da­gegen. Er hält letztlich das Interesse wach und die Nachfrage hoch. Der positive Nebeneffekt: Plötzlich taucht am Horizont die Filmgeschichte auf, die im von Neuheiten beherrschten Filmkommerz der Multiplexe und ­Videotheken aus dem Blick geraten ist. Netflix registriert großes Interesse an 1970er-Jahre-Filmen. Einer der ­Favoriten ist erstaunlicherweise "Der Dialog" von Francis Ford Coppola, ein kleines Meisterwerk im Schatten des "Paten", von dem der Durchschnittsamerikaner vermutlich gar nicht wusste, dass es existiert. Mitte der 2000er beruhen 60 Prozent der Ausleihungen auf Cinematch.

Netflix als Vorreiter des All-you-can-watch

Schon 2005 schaut Reed Hastings in die Glaskugel. Erst in fünf bis zehn Jahren werde ein größeres Film­publikum Filme per Download übers Internet anschauen. "Am Ende", sagt er, "wird VoD die größte Gefahr für Netflix sein." Ahnt er nicht, dass sie von ihm selbst ausgeht? Natürlich. Die Wende vom DVD-Versender zum Streamingdienst, die sich 2007 anbahnt, ist Hastings Ziel von Anfang an. Sie wird zum zweiten großen Coup in der Geschichte der Firma. Mit seinem Statement hypnotisiert Hastings die Konkurrenz und macht sich selbst eiligst auf den Weg in die digitale Zukunft. Ein steiniger Weg.

Was den sieben Millionen Abonnenten ab Sommer 2007 zunächst angeboten wird, sind vergleichsweise dürftige 1000 Filme. "Zoolander" von 2001 ist der jüngste. Hollywood lizenziert fürs Internet zunächst nur, was älter als fünf Jahre ist. Wer Net­flix im Netz erleben will, braucht eine Set-Top-Box, ein Ethernetkabel oder einen Wireless-Adapter, eine App oder einen DVD-Player mit Internet oder eine Xbox. Und Geduld nicht zu vergessen. Der Datentransfer mit maximal 1,6 Megabit pro Sekunde hakt und macht nicht wirklich Spaß.

Eine Stunde Film kostet 1 Dollar. Wer ein 18-Dollar-Abo besitzt, kann weiter Silberscheiben leihen und hat zusätzlich 18 Stunden Film im Netzmodus auf der Uhr. 2008 ist das ­Bezahlmodell aber schon wieder out und wird ersetzt durch ein separates Aboangebot: 8,99 Dollar für alles, was online verfügbar ist, inzwischen 10 000 Filme und Serienepisoden. Während Mitbewerber wie Blockbuster und Amazon pro Titel 2 bis 4 Dollar verlangen, ist in der Hastings-Welt das Gucken à la carte endgültig vorbei. An seine Stelle tritt das All-you-can-eat-Prinzip. Das Netflix-Schema ist geboren.

Wachstum um jeden Preis - eine hochriskante Strategie

2009 bekommt das zarte VoD-Pflänzchen Wachstumshilfe. Die Bandbreiten im Netz nehmen zu, und immerhin zwölf Prozent der verkauften Fernseher in den USA sind nun internetfähig. Netflix wiederholt sein Angebot: 8,99 Dollar für alles! Nur: Was will Netflix überhaupt auf dieser Bühne? In seinem ersten Jahrzehnt gilt das Internet als Marktplatz für E-Commerce, Zalando, Amazon und Co. Jeffrey Bewkes, Time-Warner-Chef und Schutzpatron des Pay-TV-Giganten HBO, vergleicht 2010 Netflix' Siegchancen im Krieg um Marktanteile mit der albanischen ­Armee. Die Rechnung, hochwertige Fiction einzukaufen und für läp­pische 8,99 Dollar im Monat an den Mann zu bringen, gehe niemals auf.

Das spannendste Kapitel der jungen Geschichte bricht an. Die Kunst wird sein, DVD langsam sterben zu lassen, um VoD voranzutreiben. Ende 2009 steht es bei den Abozahlen 20 Millionen zu 10 Millionen für DVD, schon zwei Jahre später ist es genau um­gekehrt. VoD verbucht nun 22 Mil­lionen Nutzer. Bei geringeren Streaming-­Erlösen und steigenden Kosten für das All-you-can-eat-Programm eine hochriskante Strategie. Geschätzte 400 Millio­nen Dollar steckt Hastings in neues Programm. Er setzt auf Wachstum um jeden Preis, weil er überzeugt ist, dass nur eine markt­beherrschende Stellung die Fiction-Produzenten dazu bringen würde, ihm Content zu verkaufen. Diese tun es und tun es nicht.

Denn die Lage auf dem Markt ist aufgrund der Struktur amerikanischer Medienkonzerne kompliziert. Viele wie Time Warner, Viacom oder NBC Universal besitzen einen Produktionszweig, etwa Hollywood-Studios, und einen Ausspielzweig, etwa Fernsehsender. Während die Produzentenhand Netflix nur zu gern Ware anböte, will die Ausspielhand den R­ivalen nicht auch noch füttern.

Ein warnendes Beispiel lieferte der Pay-TV-Kanal Starz, der größte Dealer von Filmlizenzen im Segment des Abofernsehens. 2008 überließ Starz dem nicht ernst genommenen neuen Player Netflix rund 2500 Titel für 25 Millionen Dollar. Die Branche stuft ihn später als dümmsten Deal der Geschichte ein. Die 2012 auslaufenden und auf 250 Millionen Dollar taxierten VoD-Lizenzen werden von Starz nicht verlängert. Die Periode ist Netflix' Krisenzeit. Doch das Blatt wendet sich. Schon kurz darauf erwirbt das Unternehmen den gesamten Fernsehstoff von Time Warner und dem Sender CBS für geschätzt eine Milliarde Dollar. CBS stellt fest, dass eine Vorzeigeserie wie "How I Met Your Mother" davon profitiert, wenn sie auf Netflix neue Fans gewinnt. Die "HIMYM"-Einsteiger beginnen mit Folge eins und freuen sich auf die neue Staffel bei CBS.

"House of Cards" produziert Netflix auf gut Glück

Der VoD-Riese wandelt sich vom Heimkinoveranstalter zum Binge­watching-Institut. War 2009 das ­Verhältnis von Filmware zu TV-Stoff noch 80 zu 20, steht es jetzt 60 zu 40 fürs Fernsehen.

Doch Reed Hastings ist schon wieder einen Schritt weiter. Netflix tritt 2012 mit der Beteiligung an der norwe­gischen Serie "Lilyhammer" und mit der Produktion von "House of Cards" in die jüngste Phase seiner Evolution ein. Die Neigung zum Risiko bleibt. Die Branche staunt, dass Hastings für 100 Millionen Dollar eine ganze Staffel "House of Cards" bestellt, ohne auch nur eine Folge getestet zu haben.

Ein Viertel des Datenverkehrs im nordamerikanischen Netz geht 2013 auf das Konto von Netflix. Die Aktie dümpelte seit 2002 jahrelang im einstelligen Bereich und erlebt seit 2011 ein Höhenflug. Heute liegt sie bei 180 Dollar. Das Unternehmen hat die digitale Revolution gemeistert, an der gerade Branchenriesen gescheitert sind: Kodak in der Fotografie, Großverlage im E-Book-Geschäft. Der alte Rivale Blockbuster ging bankrott. Netflix dagegen gilt heute als un­be-zwingbar. Sechs Milliarden Dollar fließen in neue Produktionen, in Storys, Regisseure, Darsteller. Die albanische Armee ­beherrscht die Welt - eine unwahrscheinliche Geschichte.