In Deutschland kennt spätestens seit 2008 jeder "Die Welle". Der Kinofilm mit Jürgen Vogel als Verführer basiert auf dem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1981 von dem US-amerikanischen Autor Morton Rhue, der Ereignisse an einer kalifornischen Kleinstadt-Highschool beschreibt. Dort unternahm im Jahr 1967 der Lehrer Ron Jones ein Experiment:

Um zu demonstrieren, wie einfach es ist, die Masse zu manipulieren, fordert er mehr Disziplin. Jeder im Kurs muss ein weißes Hemd tragen, ein Name, ein Logo und ein bestimmter Gruß gehören dazu. Vielen Schülern gefällt das neue Gemeinschaftsgefühl, sie werden "Die Welle". Doch nach relativ kurzer Zeit zeigt das Experiment böse Nebenwirkungen: Wer nicht Teil der Welle ist, wird gnadenlos ausgegrenzt. Das harmlose Schülerprojekt nimmt bald erschreckend faschistoide Züge an...

Eben diese Geschichte erzählte Regisseur Dennis Gansel in seinem Kinofilm und jetzt, elf Jahre später, macht er aus dem Stoff eine Netflix-Serie. Doch der Sechsteiler "Wir sind die Welle" ist ganz anders als sein Vorgänger.

Kritik an "Wir sind die Welle"

Gansel tritt diesmal als Produzent auf, die Drehbücher stammen aus der Feder von Jan Berger ("Der Medicus"), Regie führten Anca Miruna Lăzărescu (Folge 1,2 & 5) und Mark Monheim (Folge 3,4 & 6). Mit "Die Welle" von 2008 hat die Netflix-Serie ohnehin nur noch eines gemeinsam: Sie will eine Geschichte über Mobilisierungsmechanismen unter Schülern erzählen.

Auf dem Papier klingt die Idee einer Jugendbewegung, die außer Kontrolle gerät, erst einmal gut. Auch die Frage, wie weit man gehen darf, wenn die Ziele ehrbar sind, ist faszinierend. Der Auftakt, in dem Freigänger Tristan (Ludwig Simon) drei Außenseiter und die reiche Lea (Luise Befort) zu Rebellen macht und sie zu Aktionen gegen Schlachthäuser, Immobilienhaie, Umweltsünder und Rechtspopulisten aufrüttelt, hat Potenzial. Doch mit Folge vier läuft nicht nur die Welle aus dem Ruder, sondern auch die Serie ...

Wie konnte das passieren? Leider wird die Serie exakt an dem Punkt schlecht, an dem sie versucht, eine Botschaft in die Welt zu posaunen. Denn am Ende von Folge drei kennt der Zuschauer bereits die Moral von der Geschichte: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Dass es sich dabei um eine Plattitüde handelt - geschenkt. Doch eine linke Öko-Bewegung als radikale Zerstörer zu inszenieren, wirkt in Zeiten grassierenden Rechtsextremismus und einem zunehmenden unverhohlen menschenverachtenden Populismus von Rechts wie blanker Hohn.

Fridays for Future durch den Kakao gezogen

Klar, Gansel und sein Autor Jan Berger haben die Netflix-Serie Ende 2018 konzipiert. Die Drehbücher waren bereits fertig, als die Friday-for-Future-Bewegung im Januar 2019 in Deutschland ins Rollen kam. Dass die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen der Jugendbewegung in "Wir sind die Welle" und dem realen, weltweiten Aufstand gegen den Klimawandel, angeführt von der Aktivistin Greta Thunberg, für die Serie zu einem Problem werden, müssen sich die Macher allerdings trotzdem ankreiden lassen.

Die Dreharbeiten liefen lange genug im Jahr 2019, um etwaige Parallelen abzuschwächen oder die Geschichte so umzuschreiben, dass sie mehr über zivilen Ungehorsam erzählt, als dass er auch im links-grünen Regenmantel zum Problem werden kann. Der Moment, in dem aus einer friedlichen Bewegung radikaler Aktivismus wird, ist zu plump inszeniert und konterkariert die eigentlich hehren Ansprüche der Figuren. Zumal Rechtsradikalismus nicht thematisiert, sondern nur an den Rand der Erzählung gedrückt wird. Die Rechten sind in "Wir sind die Welle" nur harmlose, hirnbefreite Vollidioten - den Schaden richten hingegen ausschließlich die Linken an. Eine untragbare erzählerische Entscheidung, die auch dramaturgisch wenig hilfreich ist, denn die Spannungsmomente sind in der sechsten deutschen Netflix-Produktion stets vorhersehbar.

Hinzu kommen Schwächen am Drehbuch, die Figurenzeichnung ist so schablonenhaft wie das Corporate Design der NfD in "Wir sind die Welle", welches allzu offensichtlich auf die AfD anspielt. Ein Polizist, der gegen die Aktivisten ermittelt, wird regelrecht zur Karikatur, als er sich als NfD-Sympathisant outet, ein Kalb erschießt und in der nächsten Einstellung schmatzend ein Mettbrötchen verdrückt. Dass einige der Jungdarsteller schauspielerisch an ihre Grenzen stoßen, wird im Verlauf der sechs Folgen ebenfalls mehr und mehr zum Problem. Am Ende ist die Serie weniger "Die Welle" 2019 als eine radikalisierte Version von "Die Lümmel von der ersten Bank" und das mit dem ernstzunehmenden Problem, dass die Serie zum Relativieren einlädt: Ist Linksextremismus nicht genauso schlecht wie Rechtsextremismus?

Eine Frage, die in einer dezidiert für ein jüngeres Zielgruppenpublikum produzierten Serie ein fatales Signal sendet.