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TV-Tipp

"Boyhood": Der längste Dreh aller Zeiten

Boyhood: Der längste Dreh aller Zeiten
Universal Pictures

Endlich läuft das Langzeitprojekt "Boyhood" im Free-TV: Über 12 Jahre begleitete Richard Linklater seine Schauspieler beim Älterwerden.

Wenn Darsteller in Spielfilmen lange Lebensphasen durchschreiten sollen, kommt meistens die Maske ins Spiel. Schminke, Perücke und Latex lassen einen jungen Mann oder eine junge Frau schnell ziemlich alt aussehen. Auch Computer­ bearbeitung oder ein Darstellerwechsel helfen häufig bei der Verwandlung. Der texanische Regisseur und Drehbuchautor Richard Link­later (*1960) setzte für sein Filmprojekt "Boy­hood" nur auf ein einziges Hilfsmittel: die Zeit. Er wartete, bis seine Darsteller wieder älter geworden waren, und fügte dann seiner Geschichte um eine vierköpfige Familie ein weiteres Fragment hinzu. Heraus kam ein überwältigendes Stück Kinogeschichte mit einem bemerkenswert authentischen Blick auf das Leben und das Erwachsenwerden.

Am Anfang ist die Schlüsselfigur, der etwas schüchterne Mason, ein schulreifer Knirps. Er zieht mit Mutter und Schwester in eine an­dere Stadt, ohne den Vater. Weitere Umzüge folgen. Stiefväter und ­-geschwister kommen und gehen, der leibliche Vater gründet eine eigene Familie. Mason wird älter, lernt ein Mädchen kennen, sie trennen sich wieder. Als er schließlich an die Universität geht, endet der Film. Zwölf Jahre, die Linklater nicht mit den typischen Meilensteinen des Erwachsen­ werdens - erste Party, erste Liebe, erster Sex - illustriert. Er meint: "Oft bleiben die kleinen Dinge hängen, die die großen Dinge umge­ben." An die Stelle eines dramatischen Span­nungsbogens und Finale furioso setzt der Filmemacher die kleinen Augenblicke eines Lebens(abschnitts). Wunderbar.
Linklater startet sein Mammutprojekt 2002. Jedes Jahr trommelt er Crew und Besetzung für drei bis vier Tage zusammen, um 15 Minu ten Film zu drehen. Auch das Drehbuch ent­steht Stück für Stück und verändert sich stän­dig. Die erwachsenen Darsteller - Patricia Arquette, die die Mutter spielt, und Ethan Hawke als Vater - steuern eigene Dialoge und Figurenentwicklungen bei. Linklater lässt sich von den echten Lebensläufen seiner Akteure inspirieren. Der junge Mason sollte zunächst Musiker werden. Doch als klar wird, dass sich sein Darsteller Ellar Coltrane eher für Fotografie interessiert, ändert Linklater dieses Detail in der Geschichte. Seine Tochter Lorelei, die in "Boyhood" die Tochter Samantha spielt, will zwischen­ durch alles hinschmeißen und bittet ihren Vater, ihre Figur sterben zu lassen. Er kann sie überreden weiterzumachen. Das Experiment wäre wahrscheinlich gestorben. Linklater hätte 2014 bei der Berlinale keinen Silber­nen Bären gewonnen und Patricia Arquette 2015 keinen Oscar.

Im Rückblick bezeichnet der Regisseur sein Langzeitfilmprojekt als verrückt und beinahe unmöglich zu realisieren. "Die Herausforderungen sind ziemlich groß", meint Linklater. Geduld und Ausdauer seien notwendig, um die jahrelange Produktion und die Probleme der Finanzierung zu meistern. "Deswegen hat es wohl vorher noch niemand gemacht und wird es wohl auch kei­ner mehr machen", lau­tet sein Fazit.

Für die Darsteller war es ein ebenso einmaliges Erlebnis. Ellar Coltrane, für den das Abenteuer schon im Alter von acht Jahren begann, dämmer­te es schließlich mit drei­zehn, dass der Film ein wichtiger Teil seines Le­ bens geworden war. Und Arquette schwärmt: "Die idee war so großartig, keiner hatte so etwas zuvor gemacht, dass ich dachte: ich werde einen Weg finden, meinen Terminplan für die nächsten zwölf Jahre da­rauf einzustellen." Kollege Ethan Hawke nennt das Filmprojekt gar eine tiefgreifende Erfahrung. Der Schauspieler stößt im Alter von 32 zum "Boyhood"­Team und verlässt es mit 44. In diesen aufregenden Jahren lässt er sich scheiden (von Uma Thurman), heiratet wieder und wird drei­ mal Vater. "In dieser Zeit ist eine Menge passiert", meint Hawke, "Dinge, die mein Leben verändert und geformt haben. Das hat Spuren in meinem Gesicht hinter­lassen." Man sieht es, und das ist schlicht­weg grandios.
Autor: Monika Schmitz