Unrealistisch, skurril, klamaukig - und beispiellos erfolgreich: Der "Tatort" aus Münster ist beim Publikum beliebt wie kein anderer TV-Krimi. Selbst groß angekündigte "Event"-Fälle wie der Action-"Tatort" von Kinostar Til Schweiger erzielen keine höheren Quoten als die des schnöseligen Rechtsmediziners Boerne und des hemdsärmeligen Kommissars Thiel, gespielt von Jan Josef Liefers und Axel Prahl.

In Umfragen liegen die Münsteraner Kommissare stets an der Spitze der Beliebtheitsskala - auch bei Polizisten. Das spiegelt sich selbst in Kneipenausstrahlungen wieder: "Der Münster-'Tatort' läuft sogar bei einer Wiederholung besser als die anderen, bei Erstausstrahlung herrscht im Laden Ausnahmezustand", sagt etwa Johannes Schmanck, Betreiber der "Bohème Boulette" in Münster.

Warum ist das so? Sind es die immer wiederkehrenden Versatzstücke (siehe Liste rechts), die bewirken, dass einem das westfälische Duett so vertraut erscheint wie das eigene Wohnzimmer?

Für Gebhard Henke, "Tatort"-Koordinator der ARD, ist der Humor ausschlaggebend. "Niemand von uns hätte zu prognostizieren gewagt, dass diese Verbindung zwischen Komik und Krimi eine so glückliche Ehe eingehen und sich der ‚Tatort‘ aus Münster zum erfolgreichsten Beitrag in der Reihe mausern würde. Axel Prahl und Jan Josef Liefers wurden zum Maßstab für Crime-and-Smile-Produktionen in Deutschland." Aber lustig wollen auch andere sein, zum Beispiel der Großteil der Vorabendkrimis.

Charakteristisch für die Mordfälle ist auch ihre Versponnenheit. Mal wird eine Mumie auf dem Dachboden gefunden, mal ein spermapanschender Fruchtbarkeitsarzt umgebracht. Der aktuelle Fall dreht sich um eine wunderschöne, adelige, chinesische Künstlerin und Regimekritikerin - in Münster. Auf Skurrilität setzen aber auch andere Teams, wie etwa das aus Saarbrücken um Devid Striesow. Allerdings mit deutlich schwächeren Quoten.

Erfolgsrezept Behindertenwitze

Eine weitere Besonderheit ist die besonders kleine Schauspielerin Christine Urspruch, die Boerne als Silke Haller am Obduktionstisch assistiert. Sie ist die einzige Schauspielerin mit einer offensichtlichen körperlichen Anomalie, die regelmäßig im deutschen Fernsehen zu sehen ist - und in ihrer Rolle nicht auf ihre Behinderung reduziert wird. "Meine Größe wird von Boerne zwar regelmäßig erwähnt", sagt die Schauspielerin. "Aber hauptsächlich geht es immer um den Fall. Damit leisten wir schon ein bisschen Pionierarbeit."

Für Matthias Dell, Kulturredakteur bei "Der Freitag" und Buchautor (siehe rechts), ist die "inkorrekte" Art des Humors das Alleinstellungsmerkmal. "Der scheinbar lockere Umgang mit der kleinwüchsigen ‚Alberich‘ verschafft dem Zuschauer Entlastung", sagt er. "Boernes Witze wirken in dem ganzen Man-weiß-doch-gar-nicht-was-man-noch-sagen-darf irgendwie okay. Das scheint dann mutig, auch weil man den meisten anderen ‚Tatort‘-Teams die Angst ihrer Macher anmerkt, etwas Falsches zu sagen."

Damit ein Witz wirklich witzig ist, muss man ihn richtig erzählen. Und wahrscheinlich ist das das Geheimnis des Münster-"Tatorts": das einmalige Ermittlerpaar Boerne-Thiel. Die können das. Wenn Boerne seine Assistentin "Alberich" nennt, nach dem mytischen Zwergenkönig, scherzt er nicht herabwürdigend, sondern sozusagen auf Augenhöhe - denn Alberich schlägt zurück.

In Frank Thiel hat Boerne außerdem einen maximal gegensätzlichen Partner, für den Zuschauer bieten sich so mannigfaltige Identifikationsmöglichkeiten. Die gelehrten Klugscheißereien des Mediziners werden von der nuscheligen Bodenständigkeit des Polizisten einfach absorbiert. Boernes verstiegener Hochkultur hält er die stoische Liebe zum FC St. Pauli entgegen. Siegen können sie aber nur zusammen, denn bei aller Kabbelei: Natürlich lieben sie sich eigentlich, was man in der aktuellen Folge merkt wie nie zuvor. Auch mal schön.

F. I. Aures/V. Bleeck

Tatort: Die chinesische Prinzessin
SO 20.10. ARD 20.15 Uhr

ZUM ABHAKEN

Ohne diese Elemente ist es kein MÜNSTER-"Tatort":

- Thiels Handy dudelt immer "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins"

- Boerne wird aus Konzert/Vernissage/Vortrag rausgeholt, um Leiche zu obduzieren

- Thiel sagt, "Moinsen"

- Boerne scherzt über Alberichs Grösse

- Thiels "Vaddern" befördert Verdächtige/Zeugen/Opfer im Taxi und/oder kifft

- Boerne hört/dirigiert/spielt Geige zu
klassischer Musik und wird dabei gestört

- Thiel trägt Totenkopf-T-Shirt

- Staatsanwältin raucht und ist genervt

- Wohnungsstreitereien Thiel/Boerne