Man braucht sich nur umzuhören. Freunde, Kollegen und Bekannte, im echten Leben und in den sozialen Medien: Alle reden von Serien. Die einen schwärmen vom hyperrealistischen Freizeitpark "Westworld", die anderen wundern sich über das Beziehungschaos in "Love". Manchmal
könnte man denken, das Fernsehen bestehe nur noch aus Serien. So ganz falsch ist das nicht. In den USA, dem wichtigsten Fernsehmarkt der Welt, steigt die Zahl neuer Serien und neuer Staffeln von Jahr zu Jahr. 455 waren es 2016, in diesem Jahr werden es wohl um die 500 sein, und ein Ende ist nicht absehbar.

Treibende Kraft sind die großen digitalen Plattformen wie Netflix und Amazon. 70 Prozent der Netflix-User haben ihr kostenpflichtiges Abo wegen exklusiver Serien abgeschlossen. Kein Wunder, dass ein beträchtlicher Teil der sechs Milliarden Dollar, die das Onlineportal in diesem Jahr in Inhalte investiert, in Mehrteiler fließt. Konkurrent Amazon stockt sein Budget für Bewegtbildvideos ebenfalls auf und macht 4,5 Milliarden Dollar locker. Und auch der US-Kabelkanal HBO, der mit "Die Sopranos" die Keimzelle der neuen Qualitätsserien geschaffen hat, steckt Hunderte von Millionen in Neuproduktionen, darunter vier Serien, die das Erfolgsformat "Game of Thrones" fortführen oder ergänzen.

14 Stunden am Tag im Writers' Room

So entstehen die Serien auf dem Papier...

Auf die Fernsehproduzenten kommt also einiges an Arbeit zu. Allein Netflix strebt für dieses Jahr 1000 Stunden originäres Programm an. So etwas lässt sich nur erreichen, wenn der gesamte Arbeitsprozess vom Schreiben der Drehbücher bis zur Veredelung des Looks in der Postproduktion streng organisiert ist. Statt einzelner Autoren, die sich die Figuren ausdenken, die Story schreiben und an den Dialogen feilen, arbeiten immer mehr in Teams. Auch bei dieser Entwicklung standen "Die Sopranos" Pate. Der Writers' Room, in dem zahlreiche Schreiber unter Leitung eines Headautors ihre Fähigkeiten verbinden, führt gerade bei komplexen Handlungen zu besseren Ergebnissen, wo man als Einzelner schon mal den Überblick verliert. In dem Schreibraum, in dem die Autoren bis zu 14 Stunden zusammenhocken, herrscht eine strenge Hierarchie. Der Headautor hat das Sagen, die Anfänger, "Baby Writers" genannt, müssen kuschen oder fliegen raus; angeblich ist das Vorbild für die von Glenn Close gespielte eiskalte Anwältin Patty in "Damages" kein anderer als "Sopranos"-Erfinder David Chase, porträtiert von seinem früheren Untergebenen Todd A. Kessler.

Trotzdem hat sich das Modell durchgesetzt. In Skandinavien praktiziert man es schon seit mehr als zehn Jahren. US-Studios versuchen zurzeit, erfahrene dänische und schwedische Autoren abzuwerben, um ihren Drehbuch-Output für das expandierende Seriengeschäft zu erhöhen. Gehälter von 200 000 Dollar im Jahr bei Festanstellung lassen es leichter ertragen, in einem Writers' Room von einem kreativen Genie tyrannisiert zu werden. Autoren dürfen außerdem davon träumen, selbst einmal als Headautor oder Showrunner eine Serie zu prägen. Produzent und Autor haben das Sagen. Sie bestimmen maßgeblich, wie die Serie am Ende aussieht.

Schreiben, drehen, schneiden gleichzeitig

Der Regisseur ist in der modernen Serienwelt der USA oft eher eine Art Dienstleister, wobei seine Rolle von Projekt zu Projekt variiert. Zu tun gibt es für ihn dennoch genug. Studios und Sender möchten, dass das Endprodukt so gut wie Kino aussieht, aber so schnell und günstig wie Fernsehen produziert wird. Ohne Digitalisierung der Produktionsprozesse wäre das nicht möglich. In der analogen Fernsehwelt wurde erst das Drehbuch verfasst, dann gedreht und schließlich der Film geschnitten und fertiggestellt. Heute erfolgt vieles parallel und in Rückkoppelungsschleifen. Bei "Babylon Berlin" waren gleich drei Regisseure am Werk. Noch vor Ende der Dreharbeiten saßen die Cutter schon an den Schneidetischen, um die bereits gefilmten Szenen zu bearbeiten. Jörg Winger, Produzent der hochgelobten RTL-Serie "Deutschland 83", will die Fortsetzung unter dem Titel "Deutschland 86" mit zwei Drehteams ab August zeitgleich in Berlin und Südafrika beginnen. Immer bessere Digitalkameras und die
Fortschritte der Beleuchtungstechnik durch LED-Lampen führen dazu, dass schon der Film im Rohzustand eine bislang unerreichte Schärfe und Brillanz hat. Freilich gibt es durch unterschiedliche Lichtverhältnisse am Set stets verschieden ausgeleuchtete Bilder, die nicht zueinanderpassen. Die sogenannte Farbkorrektur ("Color Grading") soll diese Defizite beseitigen und ein harmonisches Ganzes erzeugen.

Noch vor zehn Jahren hätte man die Filmdaten an externe Spezialisten gegeben. Heute erlaubt es mobile Technologie, diesen Prozess am Drehort durchzuführen. "Das macht für alle Beteiligten mehr Spaß", sagt Jan Ehlert von der Produktionsfirma Moovie, der als Executive Producer die Ferdinand-von-Schirach-Verfilmungen "Schuld" und "Verbrechen" fürs ZDF begleitet hat. "Film ist ja auch ein sinnliches Erlebnis, und dieses Verfahren erlaubt zu einem sehr frühen Zeitpunkt
eine präzisere Absprache darüber, in welche Richtung sich der Film entwickeln soll." Einer der größten Virtuosen im Umgang mit der digitalen Technik ist Oscar-Preisträger Steven Soderbergh. Eine Episode seiner Klinikserie "The Knick" dreht er in sieben Tagen, doppelt so schnell wie andere. Er führt Regie, ist sein eigener Kameramann und schneidet das Material im Auto am Notebook auf dem Weg vom Set zum Hotel. Soderbergh ist die Ausnahme. Der Trend geht zur Aufteilung der Arbeit in viele kleine Schritte, für die jeweils einzelne Spezialisten zuständig sind, die auch an ganz unterschiedlichen Plätzen in der Welt sitzen können. Besonders weit ist die Globalisierung bei den Computerexperten vorangeschritten. "Visual Effects werden auch für das Fernsehen immer wichtiger", sagt Florian Gellinger, "weil sie es Regisseuren erlauben, kompromisslos ihre Vision zu verwirklichen."

Ganze Städte entstehen virtuell

Am Rechner lassen sich heutzutage allerlei Schönheitsfehler korrigieren, in Rekordtempo..

Gellinger sitzt im ersten Stock eines Hinterhofbüros in Berlins Szenestadtteil Kreuzberg. In den Räumen der Firma Rise konzentrieren sich junge Männer auf ihre Bildschirme, konstruieren gerade virtuelle Landschaften für die Comicverfilmung "Black Panther", die am 15. Februar 2018 ins Kino kommt. 85 weitere Mitarbeiter sind damit beschäftigt, in Tom Tykwers historischer Krimiserie "Babylon Berlin" all das einzufügen, was sich nicht im Studio oder im Berlin von heute drehen ließ.

Machbar ist heute fast alles, es ist nur eine Frage von Zeit und Geld. Selbst am Computer erzeugte Sequenzen von bewegtem Wasser, die früher oft aussahen wie die Plastikfolien der Augsburger Puppenkiste, wirken inzwischen erstaunlich realistisch. Einzig das menschliche Gesicht stellt die Kreativen noch vor Probleme. Die digitale Wiederbelebung des Bösewichts Grand Moff Tarkin in "Rogue One: A Star Wars Story", dessen Darsteller Peter Cushing 1994 gestorben war, trug Züge einer Zombieshow, der digital verjüngte Johnny Depp in "Pirates of the Caribbean 5" (zur Kritik) ist schon besser gelungen. Auch hier schreitet die Technik voran. Der virtuelle Bau ganzer Städte ist dagegen schon fast Routine. Für Guy Ritchies "Codename U.N.C.L.E." (2015) konstruierte Rise das komplette Berlin des Jahres 1963 am Rechner, für "Babylon Berlin" vor allem historische Fassaden und Ausblicke als Ergänzung der Szenen, die in realen Kulissen im Studio Babelsberg gedreht wurden und die im Frühjahr 1929 spielen. Hier gleicht die Arbeit der virtuellen Architekten denen von Schönheitschirurgen: Sie ist umso besser, je weniger sie auffällt. Auch realistische Fernsehfilme und Serien sind oft auf Effekte aus dem Computer angewiesen. Studios sind visuell geschlossene Systeme. Hinter der Fassade einer Villa von 1900, die Kulissenbauer errichtet haben, steht die echte Dönerbude von 2017. Die darf aber nicht ins Bild, wenn die Kamera in die Tiefe der Straße schwenkt. Also werden solche Ansichten mittels einer Software kreiert, ein Defocus-Programm erzeugt die charakteristische Unschärfe von Menschen und Häusern, die in der Ferne verschwimmen.

Am Computer kann man nicht nur Dinge erzeugen, die es nicht gibt. Man kann auch Sachen entfernen, die stören. Zum Beispiel einen schwarzen Smart, der schlicht übersehen wurde, als man in Berlin eine Straßenszene drehte, die im 19. Jahrhundert spielen soll. Was tun? Früher hätte man alles noch mal gedreht. Das kostet Zeit und Geld. Heute putzt ein Visual-Effects-Spezialist den Smart für 500 Euro vom Film. Aufwendige digitale Retuschen werden gern nach Indien verlagert. Dort sind die Löhne niedrig, aber das Computer-Know-how in der Filmbranche ist dank Bollywood ähnlich hoch wie in den USA.

Writers' Room made in Germany

Deutschland hat Nachholbedarf, doch wenn etwas entsteht, dann in Berlin

Bis zu 20 deutsche Qualitätsserien pro Jahr kann sich Ufa-Produzent Jörg Winger vorstellen. Kerstin Polte vom Berliner Serienwerk, einem lockeren Zusammenschluss von Drehbuchautoren, sieht ebenfalls noch Luft nach oben. Sie kritisiert, dass bislang zu wenig Geld in die Stoffentwicklung investiert würde: in Deutschland im Schnitt nur zwei Prozent des Budgets, in den USA teilweise mehr als zehn Prozent. Bei einer solchen Umschichtung wären auch bei uns Writers' Rooms finanzierbar. Das Interesse deutscher Autoren an dieser Art der Kooperation ist jedenfalls da. Sogar Annette Hess, die den ZDF-Dreiteiler "Ku'damm 56" geschrieben hat, mischt seit Kurzem in einem Writers' Room mit. Dort kommt man leichter auf spinnerte Ideen wie die vom Mafiaboss Tony Soprano, der zum Therapeuten geht. Kerstin Polte hat schon eine passende Autorin getroffen. Thema ihrer Comedyserie: der erste menstruierende Mann.

Autor: Rainer Unruh