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Set-Visit "Der Mann aus dem Eis"

Jürgen Vogel ist "Der Mann aus dem Eis", kurz Ötzi. TV SPIELFILM ist ihm in die Berge gefolgt

Die Kühe des Wengererbauern am Rand von Eschenlohe bei Garmisch sind unbeeindruckt. Sie mampfen und verdauen ungerührt weiter, obwohl zwei Meter von ihrem Weidezaun entfernt ge­rade ­eine Karawane von Städtern, schwer bepackt mit Kameras, Stativen, Lampen, Klappstühlen, Zeltgestänge für Faltpavillons und schweren Proviantkisten, über den steilen Fahrweg in die nahe gelegene Asamklamm zieht.

Während der Schneeschmelze im Frühjahr tosen hier Wassermassen ins Tal, doch Ende September ist das Flussbett trocken. Dicke Kieselsteine erschweren das Gehen, und von den senkrecht aufragenden Berghängen ringsum könnten sich jederzeit Felsbrocken lösen. Deshalb muss jeder im Team einen Schutzhelm tragen.
Nur einer fläzt sich schutzlos und komplett entspannt in seinen Klappsessel. Jürgen Vogel, der heute nicht nur einen dichten Vollbart trägt, sondern auch fellbesetzte Lederhosen, ein helles Lederhemd, einen Rucksack sowie Pfeil und Bogen. Sein braun gebranntes Gesicht mit den markanten Zahnlücken wird von ungewohntem Zottelhaar umrahmt.

Der Wahlberliner hat schon viele eigenwillige Charaktere verkörpert. Je unterschiedlicher die Rollen, desto besser, findet er. "Ich will ja mich und das Publikum nicht langweilen." Er überzeugte als Schauspielschüler in "Kleine Haie", spielte einen verzweifelt verliebten Obdachlosen in "Fette Welt" und den fiesen Gangster Max Grundeis in "Emil und die Detektive". Er war der eigenwillige Rockstar in "Keine Lieder über die Liebe", der charismatische Lehrer in "Die Welle" und ein zwanghafter Vergewaltiger in "Der freie Wille". Aber auch für einen Kurzauftritt in "Keinohrhasen", bei dem er sich mit blendend weißem Riesengebiss selbst auf die Schippe nahm, war er sich nicht zu schade. "Ich entscheide mich aus dem Bauch heraus für eine Rolle, das geht ganz schnell. Entweder es passt, oder es passt eben nicht."

Der Schamane mit dem Fußpilz
Die Rolle des Ötzi, die ihm Produzent Jan Krüger ("Affenkönig") und Regisseur Felix Randau ("Die Anruferin") angeboten haben, passt wie angegossen. Als "Der Mann aus dem Eis" schlüpft Vogel in die Haut des Steinzeitmanns Ötzi, dessen mumifizierte Leiche 1991 zufällig von einem Nürnberger Ehepaar gefunden wurde, das sich beim Wandern in den Ötztaler Alpen am Tisenjoch ein Stück weit vom markierten Weg entfernt hatte.

Seither erforscht die Wissenschaft das Leben und Sterben des Mannes aus der Jungsteinzeit, der 5300 Jahre im Eis verborgen gelegen hat. Immer wieder finden Experten Neues heraus. Dass dem Ötzi etwa eine Pfeilspitze in der linken Schulter steckte, entdeckten sie beispielsweise erst nach zehn Jahren auf einem Röntgenbild, das Blut auf seinem Ziegenfellmantel auszumachen dauerte sogar zwanzig Jahre.
Der Pfeil gilt inzwischen nicht mehr als Todesursache. Vielmehr hat er Ötzi nur stark geschwächt. Das ­Leben kostete ihn ein Schädel-Hirn-Trauma vermutlich infolge eines Sturzes, bei dem er rücklings auf ­einen Stein aufschlug. Das schauer­liche Ende eines Kampfs?
Die bislang gesicherten Fakten: ­Ötzi war ein Jäger, wahrscheinlich der Schamane seiner Sippe, er starb mit Mitte 40, wog rund 50 Kilo und war 1,59 Meter groß, aber von kräf­tiger Statur. Er litt nicht nur an Arte­rienverkalkung, Borreliose und Fußpilz, sondern auch an Laktoseintoleranz. Sein Gebiss weist eine beträchtliche Zahnlücke auf.
Regisseur Felix Randau, der auch das Drehbuch schrieb, hat akribisch recherchiert, unter anderem im Ötzi-Museum in Bozen, in dem die in einer Eiskammer liegende Mumie zu besichtigen ist. Gestützt auf die Forschungsergebnisse hat er eine fiktive Geschichte ersonnen. Sein Ötzi, er nennt ihn Kelab, ist gerade oberhalb der kleinen Siedlung, in der er mit Frau und Sohn lebt, auf der Jagd, als drei Männer ins Dorf einfallen, plündern, seine Frau vergewaltigen und anschließend die gesamte Sippe ermorden. Nur ein Säugling überlebt das Massaker. Kelab bestattet die Toten in einer Höhle, schnallt sich das Kind vor den Bauch, leint eine Ziege an, um Milch für das Baby zu haben, und nimmt grimmig die Verfolgung auf. Er will die Männer töten, die seine Familie ausgelöscht haben.

Mimik muss Worte ersetzen
Am heutigen Drehtag treffen Kelab und die Männer aufeinander, dabei stürzt einer von ihnen eine Felskante hinunter in die Klamm. Mit kaltem Zorn nähert sich Kelab der Leiche und drückt dem Toten die Augäpfel tief in den Schädel hinein. "Dafür kriegen wir sicher die FSK 16", seufzt Produzent Krüger, "aber was sollen wir machen, in der Steinzeit ging's nun mal hart zur Sache."
Doch die besondere Herausforderung für Schauspieler und Zuschauer ist eine ganz andere - im Film wird kaum gesprochen, weil die Menschen vor 5000 Jahren noch keine voll­ständige Sprache hatten, sondern sich mit Gesten und Lauten verständigten. Mithilfe des renommierten Schweizer Sprachwissenschaftlers Chasper Pult hat Randau die wenigen für die Handlung benötigten Worte und Sätze entwickelt, dabei ging Pult davon aus, dass damals in der Alpenregion eine frühe Form des Rätischen gesprochen wurde.
Hauptdarsteller Vogel muss die Geschichte also allein mit seiner Ausdruckskraft tragen: "Die Kunst wird darin bestehen, Jürgen agieren zu lassen und die notwendige Wucht, die die Geschichte braucht, später durch Kamera, Musik und Schnitt zu erzeugen", sagt Randau. "Jürgen ist physisch fit, extrem durchtrainiert, und er hat die nötige Sensibilität, ­diese Rolle in all ihrer Zerrissenheit auch ein bisschen sympathisch zu machen."
Derweil latscht der so Gelobte ­lässig in eine abgelegene Ecke der Klamm und pinkelt dort seelenruhig gegen die Felswand. Zurück am Set grinst er in die Runde: "In der Steinzeit gab's doch keine Klos." Dann macht er sich für die nächste Szene bereit.

Extreme Drehorte, wenig Geld
Obwohl an diesem Set alles anders ist als bei einem herkömmlichen Dreh, ist die Stimmung prächtig. Wie auf einer Klassenfahrt stellt sich das Team gut gelaunt den Herausforderungen, das nötige Equipment durch enge Schluchten und auf steile Berge zu schleppen. "Dieser Dreh ist für uns alle körperlich echt anstrengend", sagt Regisseur Randau, "denn wir turnen auf Gletschern rum, drehen in Flussläufen oder Steilwänden, und das unter teils widrigen Bedingungen. Nächste Woche sind wir in einer Gletscherspalte auf 3400 Meter Höhe. Das wird unsere größte Herausforderung."

Mit nur 31 Drehtagen und einem Budget von deutlich unter fünf Mil­lionen Euro ist die Produktion für solch extreme Drehorte und Bedingungen denkbar knapp ausgestattet. Schon ein Regentag wäre eine Katastrophe, weil der Drehplan so eng gesteckt ist, dass es keine Ausweichmöglichkeit gäbe. Trotzdem findet Jürgen Vogel: "Drehen in den Bergen ist toll. Deshalb schlage ich hiermit offiziell vor, den Heimatfilm neu zu beleben. Und wenn das nicht klappt, gebe ich eben Führungen als Ötzi."