Europa hat es nicht leicht in diesen Tagen. Leider. Gemäkelt und geschimpft wird ja schon immer gern auf unsere Staaten-Union, aber momentan ist der Protest sehr laut, und manche wollen lieber ihr eigenes Süppchen kochen und es nicht mit anderen teilen.

Die Menschen, die heute beim Wort "Brüssel" die Augen ver­drehen, sind vermutlich dieselben Menschen, die vor mehr als zwanzig Jahren an den inner­europäischen Grenzübergängen im Stau die Augen verdrehten, weil sie ihren Ausweis zeigen mussten. Dieselben Menschen, die sich über schlechte Wechselkurse ­ärgerten und jede Pizza umständlich im Kopf in die eigene Währung umrechneten. Dieselben Menschen, die sich über die Abzocke mit den teuren Roaming-Gebühren aufregten…

An dieser Stelle sei für diese Menschen der kleine Hinweis erlaubt, dass die EU all diese Dinge abgeschafft hat. Wir profitieren ­also auch von ihr. Und sind wir doch mal ehrlich: Europa ist ein toller und pulsierender Kontinent – voller Geschichte und Kultur, alles nur einen Katzensprung entfernt. Wir leben Tür an Tür mit vielen interessanten Nachbarn. Aber haben Sie sich schon bei jedem Nachbarn vorgestellt und Ihre Nachbarschaft kennengelernt? Wir Deutsche bleiben ja gern hinterm Jägerzaun und bedienen uns lieber gängiger Klischees. Statt anzuklopfen, spähen wir misstrauisch rüber und behaupten dann, dass die Russen "alle saufen", die Engländer "nicht ­kochen können" und die Italiener alle "total romantisch" sind.

Aber ist das wirklich so? Natürlich ist es einfacher, Vorurteile und Fake News aus der Schublade zu ziehen, als über den Jägerzaun zu springen. In "Ziemlich beste Nachbarn" wage ich mich deshalb stellvertretend für die Zuschauer aus der deutschen Deckung und hüpfe im ZDF nach Russland, England und Italien.

Die Italiener lieben das Leben im Hier und Jetzt

Und so viel kann ich schon verraten: Der Kessler hatte viele Klischees im Kopf und musste viele davon revidieren! Mulmig war das Gefühl, als ich den Flieger Richtung Sibirien bestieg. Noch nie zuvor hatte ich russischen Boden betreten –geprägt durch den Kalten Krieg und die sowjetische Besatzungszeit in der ehemaligen DDR gab es viele finstere Bilder im Kesslerschen Kopf. Ich war mit der Angst groß geworden, dass der "Iwan" irgendwann in Deutschland wieder "einmarschiert".

Das ist aber nicht passiert. Vor Ort war die Überraschung dann entsprechend groß: Ich fühlte mich nämlich ein bisschen wie in Deutschland. Denn Russen sind auf der Straße genauso grimmig und schlecht gelaunt wie wir Deutsche. Erst als ich Russen ­kennenlernte und mit ihnen ins Gespräch kam, tauten sie auf – genau wie wir. Wobei ich bei ­minus 22 Grad Celsius erst in der sibirischen Sauna so richtig ­auftaute. Auf Wodka wartete ich ­übrigens vergeblich. Die Russen trinken nicht nur viel weniger, als wir immer denken – sie trinken auch immer weniger Wodka. Ob in Sibirien, Sankt Petersburg oder Moskau – ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus.
Die Russen sind lustig, gastfreundlich, kochen lecker, und die tiefe russische Seele lässt tiefe und tolle Gespräche zu. Aber um Vorurteile zu revidieren, muss man gar nicht so weit fahren. Auch in England und in Italien kann man auf die Klischee-Bremse treten. Im sonnigen Italien gibt es nämlich nicht nur Dolce Vita und im verregneten England nicht nur Fish and Chips.
Während wir Deutsche Italien gern verklären und romantisieren, gehen uns die Briten mit ihren ­Extrawürsten auch schon mal auf die Nerven. Aber die Briten haben uns Deutschen etwas voraus: Sie können unheimlich gut über sich selbst lachen, und wer von uns möchte nicht den Geschmack und die Gelassenheit eines Italieners haben? Das Klischee, dass die ­Italiener im Hier und Jetzt leben, kann ich nur bestätigen, aber wie sieht es hinter den Kulissen von Pizza und Parmaschinken aus? Da geht es ziemlich drunter und drüber. Ob in der Politik oder im täglichen Leben. Die "Kavaliers­delikte" der kleinen Leute und das Schwerverbrechen der großen Mafiosi sind traurige Klischees, die sich im Zusammenhang mit diesem Sehnsuchtsort der Deutschen leider bestätigen.

Ausgeschlafene Briten

Aber es gibt auch gute Nachrichten: In England regnet es nicht mehr als bei uns. Und auch wenn Fish and Chips und ich keine Freunde geworden sind, so kann ich bestätigen: Die britische Küche bemüht sich redlich. Wussten Sie, dass Engländer fast eine Stunde länger schlafen als wir und ihren Tag auch eine Stunde später beginnen? Büro- und Schulbeginn um neun Uhr. Davon können wir nur träumen. Aber so ist Europa nun mal – unterschiedlich, wie jede Nachbarschaft, und von manchem Nachbarn kann man sogar noch was lernen.

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir Deutsche unsere dröge Funktionskleidung gegen schnittige Mode made in Milano tauschten und die Italiener eine ordentliche Steuererklärung machten? Wie schön wäre es, wenn wir uns ­eine Scheibe der russischen Gastfreundschaft abschneiden und die Briten ihre Fish and Chips ­wenigstens al dente kochen. Wer jetzt nicht gleich selbst die Segel setzen will gen Europa, dem empfehle ich, meine Nachbarschaftspflege im ZDF einzuschalten. Vielleicht geht's Ihnen dann wie einst dem Zeus. Der war nämlich mächtig verliebt in Europa…