Der Tag davor ist der Schlimmste. Jan Georg Schütte fühlt sich wie ein Bergsteiger, der am nächsten Morgen einen Achttausender besteigen will. Das Ziel liegt im Nebel, aber klar ist, dass der Weg anstrengend und das Scheitern möglich ist. Irgendwann hilft auch der Blick auf die Meditations-App nicht mehr, die sich der Regisseur auf sein Smartphone geladen hat, um vor Drehbeginn nicht durchzudrehen. Aber dann fällt auch schon der Startschuss, und Schütte ist wie verwandelt.
Hoch konzentriert folgt der Regisseur dem Geschehen, das sich vor ihm in einem altmodischen Gasthof entfaltet. 25 Jahre nach ihrem Abitur haben sich die Schüler und ein ­ehemaliger Lehrer versammelt, um zu feiern. Es ist ein Schaulaufen der Stars: Annette Frier, Jeanette Hain, Fabian Hinrichs, Charly Hübner, ­Anja Kling, Nina Kunzendorf, Kida Khodr Ramadan und viele andere sind mit von der Partie. Das Besondere: Es gibt kein Drehbuch. Alle Dialoge sind improvisiert. Niemand weiß, wohin die Reise geht. Für Regisseure, die alles kontrollieren wollen, ein Albtraum. Aber Jan Georg Schütte ist in seinem Element. Er weiß, dass viele Wege zum Gipfel führen.

Hier gibt es keine Haupt- und Nebenrollen
Mit "Altersglühen – Speed Dating für Senioren" (2014) und "Wellness für Paare" (2016) hat der 56-Jährige fast im Alleingang die Improvisa­tionskomödie im deutschen Fernsehen etabliert. Improvisiert wird zwar schon seit Langem im Film, aber selten für das große Fernsehpublikum.
"Klassentreffen" ist dramaturgisch und technisch noch anspruchsvoller als die beiden Vorgänger. 18 Schauspieler galt es mit 32 Kameras einzufangen (siehe Kasten rechts). 18 Menschen, die sich unvorhersehbar durch eine ganze Reihe von Schauplätzen bewegen. Die an der Theke ein Bier ordern, sich spontan einer Gruppe von Mitschülern zugesellen, mit der ehemaligen Klassenschönheit flirten oder zum Rauchen rausgehen.
Da man vorab nicht weiß, wer eine Haupt- und wer eine Nebenrolle spielt, welche Ideen zünden und welche verpuffen, müssen alle Darsteller so ausführlich wie möglich gefilmt werden. Von vorn, von hinten, von nah und von fern. Dabei dürfen sich die Blickachsen der Kameras nicht kreuzen, sonst filmen sich die Leute hinter den Objektiven wechselseitig. Regisseur Schütte hat deshalb anders als bei seinen vorherigen Projekten einen Kollegen engagiert, der ihn technisch unterstützt. Lars Jessen, dem das Improvisieren durch seine Komödie "Fraktus" vertraut ist, sagt, seine Aufgabe sei es, "dem Irrsinn ­einen Rahmen" zu geben.
Gemeinsam mit dem Chefkameramann Oliver Schwabe hat er die Positionen der Aufnahmegeräte in der Kneipe Paula in Hürth bei Köln festgelegt. Wichtig war, den Schauspielern eine maximale Beweglichkeit zu ermöglichen. Dafür wurde zum Beispiel hinter dem Büfett eine Wand mit einem Einwegspiegel eingezogen, hinter der man die Kameras verstecken konnte, damit sie den Darstellern nicht im Weg stehen.
Die Dreharbeiten fanden an nur zwei Tagen, am 25. und 26. November 2017, statt. Eine für alle Beteiligten ungewöhnliche Situation. Keine Regieanweisungen, keine Wiederholungen und nur zwei kurze technische Umbaupausen, ansonsten das reine Spiel wie auf einer Theaterbühne. "Das war der vielleicht schönste Dreh meines Lebens", schwärmte Jeanette Hain. Sie wirkte unmittelbar nach der Schlussszene noch ein wenig der Welt entrückt, so wie auch die ziemlich verstrahlte Frau, die sie auf dem Klassentreffen verkörpert.

"Das war vielleicht der schönste Dreh meines Lebens" (Jeanette Hain)
Auch Charly Hübner genießt es, seiner Figur die Zeit einzuräumen, die sie für ein Gespräch oder eine Handlung braucht. Manch ein Regisseur hätte ihn vielleicht zur Eile ­gedrängt. Aber der langsame Rhythmus passt zu dem Edelschuhfabrikanten mit nationalkonservativer Mentalität, den er spielt.
Es war Hübners Wunsch, in diese Rolle zu schlüpfen, deren Haltung ihm persönlich eher fremd sein dürfte, führte er doch selbst zuletzt Regie bei der Doku "Wildes Herz" über die linke Band Feine Sahne Fischfilet, die im vergangenen Jahr ins Kino kam. Hübner nutzt den Freiraum, den ihm Schütte lässt. Man spürt, dass der Krischi, den in der Schule alle immer nur nett fanden, es satt hat, nett zu sein. Deshalb stapft er durch den Raum, als trage er einen Panzer. Deshalb lässt ihn aber auch seine große Jugend­liebe abblitzen – wie Anja Kling das macht, voller Schmerz und Enttäuschung, ist große Schauspielkunst. Man spürt, wem diese Art des spontanen Spiels liegt und wem nicht: Ein Großschauspieler wie Burghart Klaußner taucht ab, während sich die schwangere Elena Uhlig als Stimmungskanone entpuppt und Aurel Manthei anrührend vor Augen führt, wie eine Schulnote ein Leben zer­stören kann.
Eigentlich wollte Regisseur Schütte diesmal nicht so viel Zeit im Schneideraum verbringen. Am Ende war's aber doch ein Dreivierteljahr. Zusätzlich zu dem 90-minütigen TV-Film hat er noch eine Miniserie aus den 130 Stunden Material geschnitten. Die sechs Folgen à 30 Minuten führen durch das Klassentreffen aus der Sicht jeweils ­einer Person. Das nächste Mal würde er zuerst die Serie drehen, sagt der Filmemacher. Aber genug hat er trotzdem längst nicht. Aktuell bereitet Schütte ­einen "Tatort" vor… natürlich als Impro-Krimi.

Zahlen & Fakten

Schütte dreht schnell, aber die wahre Arbeit
beginnt im ­Schneideraum.

4:12
Die reine Drehzeit beträgt nur knapp über vier Stunden. Dann ist alles vorbei, es wird nichts
nachgedreht

130
So viele Stunden Filmmaterial hat der Regisseur, um damit eine Geschichte zu erzählen. Die Sichtung, Sortierung und Schnitt ist eine Arbeit von Monaten.

Improvisation in der Filmgeschichte

Improvisation verbindet man gewöhnlich eher mit Jazz und Tanz als mit dem Film. Filme drehen ist teuer, da hatten und haben Produzenten und auch Regisseure gern alles unter Kontrolle. Aber es gibt Ausnahmen; drei gelungene Beispiele aus drei Ländern:

Victoria von Sebastian Schipper wurde in einer ein­zigen Kameraeinstellung am 27.4.2014 zwischen 4.30 und 7.00 in Berlin gedreht. Das Drehbuch umfasste nur zwölf Seiten, die Dialoge wurden vor Ort improvisiert und der Länge der Szenen angepasst.

Ausser Atem von 1960 brach radikal mit Kinokonventionen. Es gab kein Drehbuch, Regisseur Jean-Luc Godard tauchte jeden Morgen mit Notizen auf, aus denen dann die Dialoge entstanden. Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo mischten sich auf den Champs-Élysées unter die Passanten, ohne
Absperrung und ohne Drehgenehmigung.

Easy Rider war vor Drehbeginn am 23.2.1968 wenig mehr als ein Begriff aus dem Südstaatenslang. Drehbuch, Handlung? Fehlanzeige! Story und Szenen entstanden während der Dreharbeiten, die den ­Begriff Chaos neu definierten: ­Peter Fonda rauchte so viel Gras, dass er den Dreh beim Mardi Gras fast verpasst hätte.

Improvisiert wurde im Film aber auch schon früher: Viele Witze der Marx Brothers etwa standen nicht im Drehbuch, sondern ergaben sich spontan am Set. In seinem Klassiker "Menschen am Sonntag" (1930) schuf Robert Siodmak aus Dokumentaraufnahmen und ­improvisierten Spielfilmszenen ein neusachliches Sittengemälde Berlins. Im Abspann von "Shadows", dem Debüt von John Cassavetes aus dem Jahr 1959, heißt es stolz: "The film you have just seen was an improvisation." In Deutschland war Klaus Lemke ("Rocker") stilprägend, ihm folgen heute Regisseure wie etwa Jakob Lass ("So was von da", 2018).