Einige Twitter-User mussten vor Angst weinen, anderen wurde vor Beklemmung schlecht, und die "Welt" warnte gar vor Schlafstörungen durch so viel Horror. Als die neue Netflixserie "Spuk in Hill House" am 12. Oktober startete, lief die Hype-Maschine nur wenig später auf Hochtouren. Weniger leicht Erregbare erinnerte das zunächst unangenehm an den Rummel um den spanischen Besessensheitgrusler "Veronica": Kaum auf Netflix veröffentlicht, wurde die "wahre Geschichte" im Frühjahr 2018 auf diversen deutschen und internationalen Seiten zum "unheimlichsten Film aller Zeiten" ernannt, sie entpuppte sich dann aber als bestenfalls passable Geisterbahnfahrt.

Diesmal allerdings kann man die Aufmerksamkeit nur begrüßen: "Spuk in Hill House" ist einfach gut, in Aspekten sogar meisterhaft. Denn die zehnteilige Serie setzt weniger auf vordergründige Schocks als auf Atmosphäre und - im Horrorgenre leider eine absolute Seltenheit - auf liebevoll gezeichnete Figuren.

"Spuk in Hill House" beruht auf dem gleichnamigen, in Deutschland lange Zeit vergriffenen und anlässlich der Serie nun neu aufgelegten Roman der sträflich unbekannten Shirley Jackson (1916-65), quasi das literarische Bindeglied zwischen der Schwarzen Romantik Edgar Allan Poes und dem Psychohorror von Stephen King.

Die Story von Hill House verfilmte Robert Wise bereits 1963 sehr subtil als "Bis das Blut gefriert". Er gilt heute als der wohl beste Spukhausfilm überhaupt, während die lärmige Neuverfilmung "Das Geisterschloss" (1991) von Jan de Bont fast vergessen ist. Beide Adaptionen folgen aber im Wesentlichen Jacksons Vorlage: Ein Parapsychologe quartiert sich mit zwei medial begabten Frauen (eine hochsensibel, eine zynisch) und einem Mann (Typ Sonnyboy) in Hill House ein, um den dortigen Geistererscheinungen und mysteriösen Todesfällen auf den Grund zu gehen. Das läuft schief.

Mike Flanagan, Schöpfer und Regisseur der neuen Serie, bleibt Shirley Jackson dagegen nur im Geiste treu und nutzt die Vorlage nur als Inspiration. Sein zehn Folgen sind quasi eine Horrorversion der Serie "This is Us": das epische Drama einer Familie, erzählt auf zwei Zeitebenen.

Believe the Hype

Der Plot: 1992 zieht das Ehepaar Crain (Ex-"Spy Kids"-Mama Carla Gugino und Ex-"E.T."-Kumpel Henry Thomas) samt fünf Kindern in das marode Hill House, um das Gemäuer zu renovieren und mit Gewinn weiterzuverkaufen. Stattdessen modelt dann allerdings das Haus die Köpfe der Familie um. Die Mutter stirbt unter erst in den letzten beiden Folgen aufgeklärten Umständen, der Vater flieht mit den verstörten Kindern. In der Gegenwart prägt der Spuk die erwachsenen Kinder immer noch, die älteren drei (Schriftsteller, Bestatterin, Psychotherapeutin) haben ihn allerdings weitgehend verdrängt, die jüngeren beiden (drogensüchtig, suizidal) hat er weiter fest im Griff. Als eines der Geschwister stirbt, müssen sich die übrigen und der gealterte Vater (jetzt: Timothy Hutton) wieder mit dem Horrorhaus auseinandersetzen.

Regisseur Flanagan hat mit dem No-Budget-Schocker "Absentia" und dem Spukmeisterwerk "Oculus" (eine Art Vorstudie für "Hill House") innovative Horrorfilme gedreht. Sein "Ouija: Ursprung des Bösen" ist immerhin der mit Abstand beste Teil einer schwachen Reihe. Richtig bekannt werden dürfte er nun erst durch seine Arbeit für Netflix. Sein origineller Slasher "Still" blieb noch unter dem Radar, seine Stephen-King-Verfilmung "Das Spiel" kam bereits besser an und "Hill House" dürfte Ende 2018 nun auf vielen Bestenlisten landen.

Viele Schauspieler aus früheren Werken sind auch mit von der Partie (neben Gugino und Thomas etwa Elizabeth Reaser und die wunderschöne Kate Siegel alias Mrs. Flanagan). Sie kreieren mit Flanagan fantastisch nuancierte Figuren. Das große Ensemble spielt durchweg großartig, bis hin zu den Darstellern der jüngsten Kinder.

Andere erfolgreiche Gruselserien verdanken ihren Ruhm bei genauerem Hinsehen selten dem Grusel. "American Horror Story" zelebriert in brutaler Bilderpracht eine grausige, oft ironische Revue, "Stranger Things" schwelgt in Achtziger- und Früher-Spielberg-Nostalgie. "The Terror" (auf Amazon Prime) ist die andere brillante, anspruchsvolle Gruselserie dieses Jahres, aber letztlich doch eher ein düsteres Abenteuerdrama mit übernatürlichen Elementen. "Hill House" ist der erste unverdünnte Horror-Serienhit, die Familiengeschichte ist nicht Gegenpart des Grauens, sondern Teil davon und umgekehrt.

Perfekt ist die Serie nicht: So fesselnd die Dynamik der Familie und so unheimlich die Atmosphäre im prächtig ausgestatteten Hill House auch ist, die Geisterauftritte und Jumpscares sind durchwachsen getrickst und dürften erfahrene Horrorgucker eher nerven. Gegen Ende wird zu viel geredet, trotzdem erfährt man nicht genug über die Historie des Hauses. Das alles wird aber wettgemacht durch die geschickte Konstruktion, in der Zeitebenen verzahnt werden (mitunter in einer einzigen Kamerafahrt!), sich die Bedeutung einer Szene erst mehrere Folgen später durch Perspektivwechsel enthüllt und falsche Fährten kunstvoll in die Irre führen.

Es ist ungemein befriedigend, wenn im eigenen Kopf die Bauelemente von Flanagans Plan endlich an der richtigen Stelle einrasten und man die oft bitteren Antworten erkennt: Was hat es mit Abigail auf sich, der gespenstischen Freundin des kleinen Luke? Was will die herumgeisternde Frau mit dem gebrochenen Hals von Lukes Schwester Nell? Und was verbirgt sich hinter der Tür des verschlossenen roten Zimmers? Schon jetzt schauen viele Fans die Serie gleich zweimal, um alle Details zu erhaschen - und die Dutzende in den Hintergründen verborgenen Gespenster zu erspähen, um die sich im Netz ein eigener Kult entwickelt hat.

Während die Familie Crain dabei scheitert, das Spukhaus zu renovieren, ist Mike Flanagan genau das mit dem Spukhausgenre gelungen.

Oder anders gesagt: Believe the Hype!