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In der Welt der Schallplatten-Maxis kommt es oft vor, dass auf der sogenannten A-Seite das vermarktete Hauptstück zu finden ist, während auf der B-Seite alternative Versionen oder zusätzliche Tracks vorhanden sind. Mitunter handelt es sich um unveröffentlichtes Material oder Songs, die es aus diversen Gründen einfach nicht aufs Album geschafft haben. Aber manchmal werden die B-Seiten genauso, wenn nicht sogar berühmter als die A-Seiten. Ob das wohl mit "Nobody" auch gelingen wird?
Im neuen Film von Regisseur Ilya Naishuller ("Hardcore") steckt jedenfalls so viel von der "John Wick"-DNA, dass man tatsächlich den Eindruck eines ergänzenden Begleitfilms oder eines Remixes bekommen kann. Um einen billigen Abklatsch handelt es sich aber auf gar keinen Fall: Trotz vieler Parallelen vor und hinter der Kamera steht "Nobody" fest auf eigenen Beinen und versetzt Freunde des Actionsfilms in Daueresktase.
Nobody: Der Inhalt
Hutch Mansell (Bob Odenkirk) lebt mit seiner Frau Rebecca (Connie Nielsen) und zwei Kindern in einer beschaulichen Wohnsiedlung. Eigentlich hat er alles, was man sich wünschen kann, doch die öde Alltagsroutine hat sein Leben mittlerweile fest im Griff. Jede Woche läuft identisch ab und selbst die Mülltonne vergisst er regelmäßig rauszustellen. Eines Abends brechen zwei Diebe im Haus ein und bedrohen ihn und seine Familie mit einer Waffe. Hutch hat die Möglichkeit sich zu wehren und - tut nichts. Die Einbrecher entkommen mit ein wenig Bargeld, einigen Wertgegenständen und Hutchs männlichem Stolz. Doch der schicksalhafte Abend hat eine Seite seiner Persönlichkeit geweckt, die lange Zeit tief in ihm verborgen schlummerte und nun mit aller Macht nach außen dringt. Die Folge: Jede Menge Blut und Leichen ...
"John Wick" lässt grüßen
Der Vergleich mit dem von Keanu Reeves angeführten Franchise drängt sich nicht nur in vielerlei Hinsicht auf, sondern scheint auch regelrecht provoziert zu werden: Denn selbst das Plakat zu "Nobody" weist klare Ähnlichkeiten zu dem von "John Wick: Kapitel 2" auf - nur wird Odenkirk von allerlei Fäusten angegriffen, während auf Reeves jede Menge Pistolen gerichtet sind. Dazu wird das Gesicht von "Nobody" von einem Schlag passend deformiert, was sicher auch einem komödiantischen Effekt dient. Und so wird schon anhand des Posters klar, dass es sich hierbei um einen "John Wick"-ähnlichen Film handelt, der aber mit einer gehörigen Portion mehr Augenzwinkern daherkommt. Doch wer jetzt denkt, dass es sich nun um eine Parodie handeln könnte, liegt ganz falsch.
Das Drehbuch schrieb übrigens Derek Kolstad, der sich die ganze "Wick"-Reihe ausgedacht hat, während mit David Leitch einer der ursprünglichen Regisseure als Produzent das Projekt mitverantwortete. Und sogar mit demselben Stunt-Team trainierte Hauptdarsteller Odenkirk für seine Rolle. Inhaltlich geht es weiter: Ein friedliebender Mann wird zu einem blutigen Rachefeldzug herausgefordert, bei dem tief in ihm verborgene Fähigkeiten zum Vorschein kommen, es gibt eine ähnliche Actionsequenz in den eigenen vier Wänden, wieder einmal sind russische Gangster an allem Schuld und sogar ein süßes Tier darf nicht fehlen.
Der "Nobody": Weniger fit, aber charismatischer
Grob betrachtet mögen sich "Nobody" und die "John Wick"-Filme sehr ähneln, aber unter der Oberfläche gibt es reichlich Unterschiede, die aus Naishullers Film einen ganz eigenen Spaß machen. Und das fängt tatsächlich auch beim "Spaß" an: Gleich die allererste Szene ist cooles, furztrocken gespieltes Comedy-Gold, direkt im Anschluss geht es weiter mit einer unterhaltsam montierten Sequenz, die Hutchs langweiligen Alltag in einer Weise illustriert, dass man direkt ans Kino von Edgar Wright ("Shaun of the Dead", "Hot Fuzz") erinnert wird. Und auch im weiteren Verlauf sorgen Skript und Darstellerriege für die Portion Humor, die der "John Wick"-Reihe über weite Strecken abgeht – da ist dann nach einer kleinen "Goodfellas"-Hommage (Stichwort: Copacabana) sogar noch zusätzlich Raum für eine kurze Gesangsnummer.
Die Stars haben daran einen großen Anteil. Allen voran Bob Odenkirk ("Breaking Bad", "Better Call Saul"), der hier in einer für ihn ungewöhnlichen Rolle brilliert und es vollbringt, dass man seinen Hutch trotz seiner tödlichen Fähigkeiten nie als eigentlich netten Typen von Nebenan aus den Augen verliert. Hier zeigt sich dann auch klar der schauspielerische Vorteil: Odenkirk gibt in Actionszenen zwar alles und hat sich offensichtlich intensiv darauf vorbereitet, aber Manöver wie Reeves bekommt er nicht hin. Dafür ist seine Figur schlichtweg charismatischer – sowohl auf dem Papier als auch dank Odenkirks Darbietung. Aber nicht nur er, sondern auch Nebenfiguren wirken auch in kürzeren Momenten viel runder, unterhaltsamer und setzen so eigene Highlights: "Zurück in die Zukunft"-Star Christopher Lloyd ist gar ein echter Szenendieb!
Feinste Action mit Subtext
Trotzdem kann man "Nobody" unmöglich für eine reine Witznummer halten, dafür sorgt schließlich das Hauptargument des Werkes: die Action. Hauptdarsteller Odenkirk hatte lange für die Rolle trainiert und sich selbst zum Ziel gesetzt, möglichst oft auch tatsächlich vor der Kamera zu stehen, wenn es kracht. Und das macht sich auch bezahlt, der 58-Jährige lässt gut sichtbar die Fäuste fliegen und reiht sich gekonnt ein in die Riege der nicht mehr ganz so jungen Schauspieler, die es im Actiongenre probieren.
Ganz so filigrane Kampfkunst und Pistolen-Akrobatik wie bei "John Wick" gelingt ihm allerdings nicht. Das ist aber kein Makel, sondern entpuppt sich schlichtweg als weiteres Alleinstellungsmerkmal, denn Choreographien und Inszenierung wurden Odenkirks Fähigkeiten einfach angepasst. Und das bedeutet auch, dass Filmemacher Naishuller nie den Fehler wie so viele andere begeht, bestimmte Defizite mit Wackelkamera und hektischem Schnitt ausgleichen zu wollen. Statt technisch komplexerem Brazilian-Jiu-Jitsu wird dann schon eher rustikal auf die Feinde eingedroschen. Statt längeren Einzeltakes, in denen sich der Protagonist durch Fieslinge ballert, gibt es auch Spielereien mit Zeitlupe. Und das Finale ist eine blutrünstige Version von "Kevin – Allein zu Haus".
Als Sahnehäubchen schwingt unter all dem Krawall eine weitere erzählerische Ebene mit. Dabei werden besonders zu Beginn Fragen und Gedanken zum Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt, Vorbildfunktionen und familiären Erwartungshaltungen aufgeworfen und erörtert. Bei all der guten Unterhaltung erhält "Nobody" dadurch zusätzliche smarte wie emotionale Substanz, die besonders die Hauptfigur weiter abrundet und es ist dem Skript und den Darbietungen hoch anzurechnen, dass in einem ausgewiesenen Actionfilm auch dafür Platz war.
Fazit: Hart und herzlich – in "Nobody" stehen blutige wie einfallsreiche Action und eine gute Dosis Humor auf dem festen Fundament von Bob Odenkirks körperlicher und zugleich emotional nuancierter Vorstellung. Schon jetzt eines der Actionfilmhöhepunkte des Jahres!