In vielen Filmkritiken aus aller Welt sind gerade zwei Begriffe im Zusammenhang mit "Killers of the Flower Moon" besonders oft zu lesen: "Meisterwerk" und "Western". Nun, der Begriff "Meisterwerk" ist Martin Scorsese nicht fremd. Seine Filme erlangen diesen Titel oft schon lange vor Kinostart. Seine Stellung verdient er sich: Scorsese ist zu ganz großer Filmkunst fähig, zu epochalen Genre-Werken, die im US-Kino Maßstäbe gesetzt haben. Sein "Taxi Driver" ist der definitive Film zur traumatisierten Vietnamkriegsgeneration und zum Scheitern der 68er Bewegung, sein "Good Fellas" ist in seiner brillanten kapitalismuskritischen Sezierung des organisierten Verbrechens wohl der einzige Mafiafilm, der es verdient, in einem Atemzug mit "Der Pate" genannt zu werden.

Doch beim "Western"-Begriff wird es im Fall von "Killers of the Flower Moon" komplexer. Für sein Mammutprojekt, welches immerhin knappe dreieinhalb Stunden lang ist, hat er sich den Oscar-gekrönten Drehbuchautoren Eric Roth ("Forrest Gump", "Dune") zur Seite geholt, und ein Sachbuch des Autoren David Grann verfilmt. Dieses Sachbuch schildert detailliert und mit spürbarer Wut im Bauch von einer Mordserie in den 20er Jahren. Damals wurden reiche Angehörige des Indianerstammes der Osage in einem Reservat in Oklahoma umgebracht, als unglaublich große Ölvorkommen unter ihrem Land entdeckt wurden. Gut, zugegeben, so zusammengefasst klingt es wirklich nach einem Western. Auf den zweiten Blick ist es aber etwas komplizierter.

Killers of the Flower Moon: Ein Zug fährt ins Indianerland

Die Osage wurden wie viele Stämme der sogenannten "First Nations" von Kolonisten vertrieben oder ermordet, als die weißen Europäer mehr und mehr die USA besiedelten. Irgendwann gewährte ihnen die US-Regierung zwar eigene Territorien, doch auch diese wurden sukzessive über die Jahre verkleinert – bis die Osage sich schließlich entschlossen, ihren jüngsten Zufluchtsort im heutigen Oklahoma selbst aufzukaufen. Sie ließen sich vertraglich zusichern, dass ihnen "ihr" Stück Land fortan gehörte – inklusive aller eventuellen Bodenschätze. Ein Deal, der sich lohnte, als in genau diesem Gebiet Öl gefunden wurde. In Granns Buch heißt es, 1920 hätten die Osage das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt gehabt. Und so spielt Scorsese zu Beginn seines Films wirklich mit filmischen Western-Motiven, stellt diese aber auf den Kopf.

Ganz wie in beispielsweise "Spiel mir das Lied vom Tod" führt er seine Hauptfigur durch einen Zug ein, der in einem Ort eintrifft. Es ist Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio), ein Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg. Doch dann findet der genau wie man selbst sich als Zuschauer in einem umgekehrten Western-Szenario wieder: Die Indianer sind jetzt an der Oberhand, sie leben im Reichtum und glücklich, während die Weißen vor Ort die niederen Arbeiten verrichten, die Angestellten sind. Ernest kommt in das Land der Osage, um bei seinem Onkel William Hale (Robert De Niro) zu leben, der als wohlhabender Geschäftsmann ein Freund der Indigenen zu sein scheint. Vor Ort als Taxifahrer arbeitend lernt er die junge, schöne und gütige Osage-Frau Mollie (Lily Gladstone) kennen und lieben. Nach einer vorsichtigen ersten Romanze heiraten die beiden.

Ein pechschwarzes Porträt der Gewalt

Mit besessener Liebe zum Detail und größtmöglichem Verständnis für die Kultur der Osage inszeniert Scorsese in der ersten seiner dreieinhalb Stunden Laufzeit von einer Native-American-Utopie, von einem "First Nations"-Schlaraffenland – aber einem mit Verfallsdatum. Mit fortschreitender Länge entpuppen sich William Hale und Ernest Burkhart, die weißen Eindringlinge in diesem Wunderland, als Wölfe im Schafspelz. Hale fädelt Hochzeiten zwischen weißen Männern und Osage-Frauen ein und sorgt dann dafür, dass die Frauen nach den Eheschließungen schnell zu Tode kommen. Ernest ist in diese Machenschaften mitverwickelt – und obwohl u.a. Mollies Schwester Anna (Cara Jade Myers) ermordet wird und Burkhart seine Diabetes-kranke Frau irgendwann selbst über ihre Insulinspritzen langsam zu vergiften beginnt, beteuert er bis zum Schluss des Films, sie aus aufrichtiger Liebe geheiratet zu haben.

Im Sachbuch hat David Grann diese Geschichte aus der Sicht der Ermittler der damaligen Behörde BOI erzählt, die auf Anweisung ihres Chefs J. Edgar Hoover die Morde aufklären sollten – und anhand dieses Falls davon erzählt, wie es zur Geburtsstunde des FBI mit Hoover an der Spitze kam. Scorsese und Roth erzählen hingegen aus der Täterperspektive. Der Ermittler Tom White (Jesse Plemons) tritt erst nach weit über zwei Stunden erstmals im Film auf. "Killers of the Flower Moon" zeichnet ein pechschwarzes Porträt der Gewalt – der inneren und der äußeren. Schonungslos zeigen die weiten, großartigen Aufnahmen von Kameramann Rodrigo Pieto, wie das Blutvergießen das idyllische Land beschmutzt und die Gemeinde zerrüttet. Sensationell spielen DiCaprio und Gladstone das zentrale Ehepaar, in deren Miteinander so viel Liebe und Wärme spürbar ist, während Ernest unaussprechliche Taten begeht.

"Killers of the Flower Moon" erzählt aus Tätersicht von den Opfern

Lily Gladstone, Leonardo DiCaprio, Robert De Niro

Lily Gladstone, Leonardo DiCaprio und Robert De Niro in "Killers of the Flower Moon".

Scorsese war immer von Western inspiriert, der für ihn prägendste Film ist der Klassiker "Der schwarze Falke" von 1956. Doch genau diesem nähert er sich hier eigentlich wenn, dann nur in der Ausstattung an. Erzählerisch ist sein "Killers of the Flower Moon" trotz epischer Länge kein Epos, sondern der Versuch, eine große amerikanische Tragödie in nur einen Haushalt zu verkürzen.  Alles, was in Osage County passiert ist, geschieht in diesem Film im Mikrokosmos einer Ehe. So wie die Weißen zusehends das Land verderben und die Indianer ermorden, bis sogar der Ku-Klux-Klan auf den Plan tritt, so vergiftet Ernest auch seine Frau, macht sie krank, raubt ihr die Lebensfreude. Dies ist kein Western, sondern ein düsterer Liebesfilm.

Scorsese gelingt mit dieser Zuspitzung dank seiner Darsteller, insbesondere aber dank Editorin Thelma Schoonmaker, deren rhythmischer Schnitt wahrhaftig meisterhaft ist, einige bemerkenswerte Szenen, barocke Dialoge, großartige Momente, die eindringlich aufzeigen, was er erzählen will: Es geht ihm darum, die Liebe der nordamerikanischen Ureinwohner gegenüber ihrem Land, ihrer Kultur und ihrer Gemeinschaft zu porträtieren. Sein Film feiert diese Liebe, zelebriert sie und am Ende wird sie auch betrauert. Wie ernst ihm dieses Anliegen persönlich ist, zeigt die Endszene, in der der Meister-Regisseur selbst an der Seite von "The White Stripes"-Musiker Jack White einen Gastauftritt hat und wortwörtlich einen Nachruf auf den Osage-Stamm verliest. Sein Film erzählt aus Tätersicht, aber ist den Opfern verpflichtet. Hinsichtlich der kulturellen Bedeutung und Repräsentation dieses Dramas für die indigene Bevölkerung der USA sind die "Meisterwerk"-Betitelungen fraglos nachvollziehbar.

Nach Kinolaufzeit wandert "Killers of the Flower Moon" zu Apple TV+

Doch aus rein filmischer Betrachtung heraus ist bei Weitem nicht alles gelungen. Ausgerechnet Scorseses jahrzehntelanger Kollaborateur Robert De Niro ist mit einer Rolle gestraft, die in ihrer karikaturistischen Boshaftigkeit nie die Grenzen der Eindimensionalität verlässt. Ihm fehlt in einigen furchtbar aufdringlich gespielten Szenen nur noch ein Schnurrbart zum Zwirbeln – und gerade weil seine Rolle so arg simpel und eindeutig böse gerät, fehlt es in den Gewaltmomenten manchmal am nötigen Format. Als in der letzten Stunde dann mehr und mehr die Ermittler und die Gerichte (u.a. Brendan Fraser als Anwalt) ins Spiel kommen, erzählt der 80-Jährige Regisseur zwar stilsicher, aber auch routiniert in den Gefilden, in denen er immer zuhause war, von Verbrechen, die aufgedeckt werden, von Männeregos, die zerbrechen … all das kennt man von ihm schon. Die ganz große cineastische Klasse eines "Good Fellas" erreicht er hier allerdings nicht nochmal.

Ein Vergleich drängt sich auf, zu einem Film von 1980, der sich ohne Zweifel wirklich als Western charakterisieren lässt: "Heaven's Gate". In diesem ebenfalls weit über drei Stunden langen Filmmonstrum hatte Regisseur Michael Cimino auch schon von den Sünden Amerikas erzählt, von den Lügen, auf denen das Selbstverständnis der Nation bis heute fußt, und vom Blutvergießen, dass den Nachfahren der Kolonisten bis heute ihren Reichtum ermöglicht, vom amerikanischen Traum, der für die Ureinwohner dieses Landes zum Albtraum wurde. Auch er hatte diese große Themen auf wenige Figuren heruntergebrochen – nochmal weitaus vielschichtiger, komplexer und packender, als Scorsese jetzt. Doch er war krachend damit gescheitert. An den Kinokassen floppte der sündhaft teure "Heavens Gate" so sehr, dass Ciminos Karriere in Trümmern lag und das Produktionsstudio United Artists unterging.

Ein ähnliches Risiko wie Cimino geht Scorsese nicht ein. Hauptgeldgeber der mit 200 Millionen Dollar Budget ebenfalls irrsinnig teuren Produktion ist der Apple-Konzern, und nach seiner Kinoauswertung wird "Killers of the Flower Moon" exklusiv beim Streamingdienst Apple TV+ zu sehen sein. Für Apple dürfte hier nicht der kommerzielle Erfolg alleine von Bedeutung sein: Man schielt auf Prestigeprojekte für die eigene Hausmarke, auf große Namen, und auf Preise, von denen es sicherlich einige geben wird. Untergehen dürfte hiermit also niemand, selbst wenn der Film kein ganz großer Hit à la "Barbie" oder "Oppenheimer" werden sollte.

43 Jahre nach seinem einstigen Flop gilt "Heavens Gate" heute übrigens vielen als "Meisterwerk". Scorseses Film wurde gleich von Anfang an so bezeichnet – man darf gespannt sein, wie es in nochmal 43 Jahren aussieht.

"Killers of the Flower Moon" ist seit dem 19. Oktober 2023 in den deutschen Kinos zu sehen.