Geschichten aus ihrer Anfangszeit im Journalismus zu erzählen, ist für Gerhard Delling und Béla Réthy ­ungefähr so spannend wie ein Freundschaftsspiel zwischen Gi­braltar und San Marino. Aber sie gehören natürlich dazu, wenn TV SPIELFILM die beiden dienst­ältesten WM-Abgesandten von ARD und ZDF zum Gipfeltreffen bittet - zumal sie dokumentieren, wie sehr sich die Berichterstattung seither verändert hat.

Delling entscheidet sich für eine Anekdote von Beginn der 80er-Jahre, als er den damaligen HSV-Coach Ernst Happel vor einem Spiel gegen die Bayern überrumpelte. "Damals wusste ich nur, dass Happel der Grantler war. Was ich nicht wusste: Er sprach zu dem Zeitpunkt mit keinem Pressevertreter mehr." Vom Jungreporter dennoch angesprochen, muss der Meistertrainer "echtes Mitleid mit der schlaksigen Figur vor sich gehabt haben. Er nahm mich plötzlich in den Arm, ging mit mir ein paar Schritte die Aschenbahn entlang und erzählte mir tatsächlich alles, was ich wissen wollte". Und heute? "Es ist sicher nicht leichter geworden, was allein schon durch die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse und die Quantität der Anfragen klar wird. Außerdem ­suchen sich die viel umworbenen Protagonisten mehr denn je aus, mit wem sie sprechen wollen."

Réthy - damals ZDF-Praktikant - hat eine ähnliche Erfahrung mit Happels Kölner Kollegen Hennes Weisweiler gemacht, den er, mit Kamera bewaffnet, auf der Trainerbank interviewte. "Wat machste denn hier, biste noch neu, fragt er mich. Dat darfste nicht machen, dich auf die Trainerbank setzen! Ich wollte mich schon trollen, als Weisweiler sagt: Wenn du schon mal da bist: Wat willste denn wissen, Junge?" Réthys Fazit kommt ohne jede Nostalgie aus: "Heute ist Fußball ein durchgestyltes Produkt, mit festen Abläufen, auch für uns Berichterstatter - damals war es einfach Fußball."

Dass dieses Produkt bei der WM in Russland mal wieder auf Hochglanz poliert wird, um alles, vor allem jedoch unliebsame Kritik an der Politik Präsident Putins und der FIFA, zu überstrahlen, ­beäugen die beiden WM-Routi­niers kritisch, aber auch mit einer guten Portion Gelassenheit.

Das Interview mit Béla Réthy und Gerhard Delling

2006 bei der Sommermärchen-WM in Deutschland war "Die Welt zu Gast bei Freunden". Welcher Slogan fällt Ihnen mit Blick auf das Turnier in Russland ein?
Béla Réthy: Die Welt zu Gast beim neuen Zaren. (lacht)
Gerhard Delling: Die Welt ist durcheinander - lass uns erst mal Fußball spielen. Vielleicht kommt man sich dann ja wieder ein bisschen näher...
Réthy: Wobei ich da schon unterscheiden würde zwischen dem Wirken von Wladimir Putin und dem Volk. Das sind ja sehr herz­liche, gastfreundliche Menschen, und ich bin auch wirklich sehr gespannt auf die russische Bevölkerung. Politik und Bevölkerung würde ich immer trennen.
Delling: Aus meiner Sicht lässt sich das nicht trennen, weil Gesellschaften ja auch immer das Ergebnis des Systems sind. In der Olympiastadt Sotschi haben wir einige sehr offene, gebildete junge und ältere Menschen gesprochen. Die fanden die Politik von Putin fast unisono richtig. In den Diskussionen wurde einmal mehr klar, dass wir unser Wertesystem nicht einfach eins zu eins auf andere Länder projizieren können. Dafür muss man Verständnis haben - allerdings nur solange nicht Gewalt angewendet wird! Trotzdem ist es gerade in dieser Zeit, in der viele Gesprächsfäden ganz offenkundig gerissen sind, wichtig, sie wieder aufzunehmen - und da kann ­eine WM eine Chance sein.

Demnach halten Sie nichts von einem WM-Boykott, den einige west­liche Politiker fordern?
Delling: Ich bin noch bei keiner Sportveranstaltung für Boykott gewesen. Wenn man das konsequent durchzieht, wird es Begegnungen wie jetzt bei der Fußball-WM irgendwann gar nicht mehr geben. Dabei sind sie immer auch eine Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen, damit sich Beziehungen, vielleicht auch nur punktuell, verbessern können.
Réthy: Man denke nur an die letzten Olym­pischen Spiele in Pyeongchang. Vielleicht hat diese Großveranstaltung dazu beigetragen, dass zwischen beiden koreanischen Staaten eine gewisse De­eskalation zustande kommt.

Mit welcher Atmosphäre rechnen Sie während der WM?
Réthy: Ich glaube, dass die Russen früh aus dem Turnier ausscheiden werden, die sind sportlich einfach nicht gut genug. Das wird sich natürlich auf die Stimmung auswirken. Aber es sind sehr viele Karten verkauft worden, auch ins Ausland. Es wird ­also nicht allein von den russischen Fans abhängen, ob die Atmosphäre gut ist, sondern auch von den internationalen Gästen.

Von welchem ­Spieler erwarten Sie etwas ­ Besonderes?
Delling: Bei den Summen, die momentan unterwegs sind, müsste man das eigentlich von allen halbwegs bekannten Stars erwarten. Aber ich bin ziemlich sicher, dass einer wie Cristiano Ronaldo liefern wird. Wie auch immer man zu ihm stehen mag aufgrund seiner bisweilen extravaganten Art, er verkörpert wie kaum ein anderer den Akteur, der an sich selbst die größten ­ Erwartungen hat und extrem professionell versucht, diesen ­gerecht zu werden.
Réthy: Interessant wird auch Ägypten sein mit Mo Salah - ­vorausgesetzt, seine Schulterverletzung aus dem Champions-League-Finale macht ihm nicht mehr zu schaffen. Natürlich hat Salah auch noch Mitspieler, die keine so hohe Qualität haben. Aber er kann eine sehr prägende Figur des Turniers werden. Außerdem hoffe ich natürlich auf einen fitten Timo Werner, der gerade bei der aktuell gängigen Art, Fußball zu spielen - die meisten Mannschaften spielen ja nur noch gegen den Ball und nicht mit ihm -, von seiner Geschwindigkeit profitieren könnte.

Herr Delling, die TV-Bilder aus dem DFB-Quartier haben oft einen Home­story-Touch. Suggeriert das nur eine große Nähe zu den Protagonisten, oder ist sie tatsächlich vorhanden?
Delling: Auf der einen Seite suggeriert das eine große Nähe. Und zwar, da will ich gar nicht lügen, manchmal ein bisschen mehr, als tatsächlich da ist. (lacht) Andererseits geht es um Berichterstattung vor Ort, in diesem Fall aus dem DFB-Quartier - wenn man da nicht eine gewisse Nähe aufbaut, hat man auch etwas verkehrt gemacht. Natürlich sitzen wir nicht ständig mit den Spielern an einem Tisch. Aber bei den Begegnungen muss es schon gelingen, mehr zu erfahren, als allein die Verlautbarungen vermuten lassen. Deshalb ist es sicher von Vorteil, wenn man sich kennt und auch zwischen den Zeilen lesen kann.

Nach reiflicher Überlegung hat sich der DFB Ende letzten Jahres für ein Hotel in Watutinki vor den Toren Moskaus entschieden. Hat Sie die Quartierswahl überrascht?
Delling: Hinter den Kulissen waren wir ja mit den Gedankengängen der DFB-Verantwortlichen vertraut. Überrascht waren wir ­also nicht. Ich persönlich aber war ehrlich gesagt auch nicht erfreut: Die Wege in Watutinki sind doch ein bisschen schwieriger und länger. Wobei die Wege in Sotschi beim Confed Cup im letzten Jahr auch wirklich extrem kurz waren. Und mal aus dem Blickwinkel des Touristen betrachtet: Es lässt sich natürlich leichter arbeiten, wenn die Sonne scheint und draußen das Meer rauscht...

...als vor der tristen Plattenbaukulisse von Watutinki.
Delling: Da beschäftigen mich andere Dinge mehr, etwa die ­eigenen Sportmöglichkeiten. Wir verbringen vier, fünf Wochen dort. Da kommt man nicht umhin, sich ein bisschen fit zu halten. Sonst steht man das nicht durch.

Noch heute schwärmt der DFB von der tollen Atmosphäre vor vier Jahren im Campo Bahia. Wie soll die in Watutinki entstehen?
Réthy: Ich kenne nur Fotos von dieser Anlage, das ist schon ein harter Kontrast zum Campo ­Bahia. Aber vielleicht rückt man in der Not ja noch ein bisschen enger zusammen. (lacht)
Delling: Bevor hier ein falscher Eindruck entsteht: So groß wird die Not nicht sein, letztlich sorgt der DFB schon dafür, dass es an nichts fehlen wird.

Herr Réthy, die Vorrunde wird mit Spielen wie Panama - Tunesien für viele Zuschauer zur Geduldsprobe. Geht es Ihnen als Kommentator manchmal ähnlich?
Réthy: Die Vorrunde ist zum Teil sicher auch Folklore. Aber Spiele wie jetzt Panama - Tunesien oder Marokko - Iran gehören zum Wesen einer Weltmeisterschaft! Das können auch sehr schöne Spiele sein, mit neuen Namen und neuen Geschichten, die die Arbeit eines Kommentators spannend machen, weil er sich in der Vorbereitung so richtig reinknien kann. Wobei auch das am Ende nicht immer hilft: Bei der WM 2006 habe ich das Spiel Saudi-­Arabien gegen die Ukraine kommentiert, das war in Hamburg und in der Tat schrecklich.

Das Finale läuft im ZDF. ­Mög­licherweise Ihr drittes
und letztes WM-Endspiel als ­Kommentator, Herr Réthy...

Delling: Hörst du auf?
Réthy: Nein, aber bei der WM 2026, wenn das ZDF wieder dran ist, bin ich 70. Dann ist es vorbei!
Delling: Das Leben?
Réthy: (lacht) Nein, das Leben hoffentlich nicht. Es hat dann nur andere Facetten. Und überhaupt: Wer das Finale 2018 kommentieren wird, steht noch gar nicht fest!

Sie haben fast 400 Fußballspiele live fürs ZDF kommentiert. Ist der Job überhaupt noch etwas Besonderes für Sie?
Réthy: In der Kommentierungsarbeit ist schon Routine da, klar. Aber auch bei meiner mittlerweile siebten WM als Livekommentator wird vieles neu für mich sein. Anderes Land, andere Kultur, andere Voraussetzungen, andere Reiselogistik. Da bin ich noch nicht abgestumpft, sondern immer wieder neugierig. Ich hoffe, das bleibt so.

Die Bilder von prügelnden russischen und englischen Hooligans bei der EM 2016 in Marseille sind noch in trauriger Erinnerung. Befürchten Sie ähnliche Ereignisse auch in diesem Sommer?
Delling: Wenn schon immer zu Recht auf die politische Bedeutung eines solchen Großereignisses hingewiesen wird, dann dürfte klar sein, dass Putin und alle, die an der Macht sind, kein Interesse an Schönheitsfehlern bei dieser WM haben. Nach allem, was ich bei meinen letzten Besuchen in Russland dazu - zum Teil vertraulich - gehört habe, scheint es eine inoffizielle Ankündigung der staatlichen Stellen zu geben, solche Täter härter und länger denn je zu bestrafen, und daraufhin die Reaktion der Hooliganszene, das nicht zu riskieren.

Dass es auch im Stadion zu Ausschreitungen kam, wurde in der TV-Übertragung 2016 unterschlagen. Die UEFA argumentierte, dass man möglichen Nachahmungs­tätern kein Vorbild liefern wolle. Wird auch die FIFA solche Bilder im Fall der Fälle zensieren?
Delling: Ich denke, sie wird weiter versuchen zu zensieren. Aber es sind so viele Augen und Ohren und Kameras in den Stadien, das wird nicht gelingen.
Réthy: Es wäre auch ein alberner Versuch, das Ereignis um jeden Preis auf Hochglanz zu polieren. Es ist eben nicht immer Hochglanz! Man würde versuchen, ein Bild vom Menschen zu vermitteln, das lächerlich ist: Es gibt nur das Gute in uns, nichts Böses...

Wie ist Ihre Haltung zu dieser Form von Zensur?
Delling: Ganz klar: den Tätern kein Forum bieten, zugleich aber zeigen, wie brutal, schlimm und gemein das ist, was da abläuft. Denn die Zuschauer bekommen ja sonst einen ganz falschen Eindruck und können vielleicht gar nicht verstehen, warum in solchen Fällen harte Strafen greifen sollen.

Stichwort Video-Assistent: Nach den vielen Diskussionen der ­vergangenen Bundesligasaison dürfte der Einsatz des technischen Hilfsmittels bei der WM kaum reibungsloser laufen.
Delling: Ich habe mich schon vor vielen Jahren für den Videobe­weis starkgemacht. Aber dass die Szenen nicht ausschließlich im Stadion von den dort handelnden Personen entschieden werden, halte ich für einen kolossalen Fehler, der zu schwierigsten Diskussionen führen muss. Allein schon weil - das weiß jeder, der professionell mit Kameras arbeitet - der Eindruck des zweidimensionalen TV-Bilds manchmal so verfälscht, dass man gar nicht glauben mag, dass die Schlussfolgerung eigentlich eine andere sein müsste. Nur die Unparteiischen vor Ort haben den zusätzlichen Live-Eindruck. Allein die dürften an der Entscheidung beteiligt sein!
Réthy: Die fehlende Einbindung der Zuschauer im Stadion war in der Bundesliga ein weiteres großes Problem. Das wird allerdings bei der WM anders sein: Die ­Anzeigetafel soll darüber infor­mieren, was gerade geprüft wird. Ein Handspiel, ein Foulspiel, ­eine Abseits­situation. Wenn man dann noch die Szene auf der ­Videowand nachreicht, würde der Zuschauer im Stadion perfekt mitgenommen: Darum geht's. Wenn nicht, schließt man die ­Stadionbesucher von einem Teil des Spiels aus.

Vor der WM-Vergabe 2026 soll FIFA-Chef Gianni Infantino versucht haben, die Bewerbung von Marokko zu torpedieren, um den von ihm favorisierten Kan­didatenverbund USA, Kanada und Mexiko zu stärken. Ist der Weltverband noch zu retten?
Delling: Den Weltverband muss man nicht retten, er ist immer noch extrem einflussreich und stark. Er müsste nur für eine neue Glaubwürdigkeit verschlankt, ­reformiert und transparenter gemacht werden. Zur Not auch durch politischen Druck, gerade weil das Gewicht immer noch so groß ist.
Réthy: Was du da vorschlägst, ist richtig - aber illusorisch. Ich glaube, es gibt keinen politischen Druck, der die FIFA beschädigen kann. Es ist ja offenbar erwiesen, dass die WM 2022 von Katar erkauft wurde. Trotzdem ist man nicht in der Lage zu sagen, hier ­liegen genügend Beweise vor, um ­einem Land das Turnier zu entziehen. Gut, wie wir wissen, gibt es ja keine WM-Turniere umsonst.

Wobei das deutsche Sommermärchen 2006 vergleichsweise günstig gewesen sein soll.
Réthy: (lacht) Wenn es denn so war, was wir juristisch noch nicht handfest wissen.