Wahrscheinlich spricht Aylin Tezel besser Englisch als die meisten Menschen im Londoner Multikultiviertel East End. Während draußen Frauen in Burkas vorbeiziehen, redet die Schauspielerin in einem Café gegen die hämmernden Beats aus den Boxen an.

Gerade hat die 30-Jährige, die wie 20 aussieht, ihren ersten Kinofilm auf Englisch abgedreht: In "Dublin Berlin" (Arbeitstitel) spielt sie eine Deutsche, die sich in einen Iren verliebt. Um für weitere internationale Einsätze gerüstet zu sein, nimmt sie Einzelunterricht bei einem Voice-Coach, der ihr die Feinheiten der Aussprache beibringt.
Eine Agentur in London hat die Tochter eines türkischen Arztes und einer deutschen Krankenschwester auch schon. Curtis Brown vertritt so namhafte Schauspieler wie den "Twilight"-Star Robert Pattinson. Tritt Aylin Tezel also in die Fußstapfen von Sibel Kekilli, die in "Game of Thrones" mitmischt?

Da winkt Tezel mit einer Bescheidenheit ab, die nicht gespielt wirkt. Bei den Castings für neue Serien - die Anfang jedes Jahres in Los Angeles stattfinden - eine Rolle zu ergattern, sei wie ein Sechser im Lotto.

Meine Generation weiß nicht, wie sie ihr Leben leben soll

Sie schätzt an internationalen Serien wie "Mad Men", dass die Macher uns zutrauen, auch komplexere Zusammenhänge zu begreifen: "Man sollte die Zuschauer nicht unterschätzen. Man sollte ihnen mehr zutrauen."

Erst einmal ist Tezel im deutschen TV zu sehen, im Auftaktfilm der Reihe "Debüt im Ersten". Sie spielt in "Am Himmel der Tag" eine Studentin, die ziellos in den Tag und mehr noch in die Nacht hinein lebt, bis eine Schwangerschaft ihr Leben radikal verändert: "Es ist ein Film über meine Generation, die 20- bis 35-Jährigen, die relativ abgesichert, aber orientierungslos und nicht genau wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Die erst ein Fach studieren, dann ein anderes, aber am liebsten noch ein Drittes machen würde."

Als Lara nach einem One-Night-Stand schwanger wird, beschließt sie, ein neues Leben anzufangen. Sie sieht in der Mutterschaft eine Aufgabe, die ihr bislang in dem Driften zwischen Hörsaal und Partys gefehlt hat. Dann der Schock: Das Kind stirbt im Mutterleib. Lara will das nicht wahrhaben und verheimlicht es ihrer Umwelt.

Wie hat sich Aylin Tezel auf diese Rolle vorbereitet, die das ganze Spektrum der Gefühle von wilder Ausgelassenheit bis tiefer Traurigkeit umfasst? Sie hat Axel Endler und Melanie Franke besucht, die über ihre eigenen Erfahrungen den Dokumentarfilm "Stille Geburt - Vater, Mutter und (k)ein Kind" gedreht haben. "Dabei hat mir Melanie Franke erzählt, wie es sich für eine Frau anfühlt, wenn ihr Kind im Mutterleib stirbt", erinnert sich Aylin Tezel.

Es war für Melanie Franke kaum zu ertragen, wenn sie an einem Spielplatz vorbei ging und Kinder schreien hörte. "Ich habe das alles abgespeichert und später bei der Vorbereitung auf die Rolle gemerkt, dass es mir selber so ging", so Tezel. "Irgendwie ändert sich die Wahrnehmung, wenn man sich so intensiv mit einer Rolle beschäftigt. Ich war froh, als die Dreharbeiten vorbei waren, weil ich mich von der Traurigkeit verabschieden konnte, die mich die ganze Zeit begleitet hat."

Adieu Schauspielschule

Anders als die unsichere Studentin Lara, die sie in "Am Himmel der Tag" verkörpert, weiß Aylin Tezel ganz genau, was sie will und was nicht. Sie verließ nach eineinhalb Jahren die Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" ohne Abschluss. Leicht ist ihr der Entschluss nicht gefallen, gilt die Berliner Schauspielschule doch als die beste Deutschlands, aber Tezel war der Lehrplan zu rigide. Sie setzte eine unterbrochene Ausbildung als Tanzpädagogin fort und nahm erste TV-Rollen an.

Bis heute achtet die Optimistin auf eine große Bandbreite. Die reicht von der Selbstmordattentäterin in einer Folge von "Bloch" über eine Deutschtürkin in dem Kinohit "Almanya" bis zum "Aschenputtel" in einer ARD-Märchenverfilmung. Als Polizeioberkommissarin Nora im Dortmunder "Tatort" kennen sie Millionen. Da ist sie nur eine von vier Ermittlern und nicht die auffälligste: Gegen den flackernden Irrsinn von Jörg Hartmann als Penner-Polizist kann man nicht anspielen, wenn die eigene Rolle Normalität vorschreibt.

Streng mit sich selbst

Aylin Tezel wirkt mädchenhaft und zart. Aber wenn sie über ihre Arbeit spricht, präzise und gut vorbereitet, dann schwingt da eine Energie und Zielstrebigkeit mit, die man leicht übersieht. Ohne Disziplin und Strenge, auch gegen sich selbst, hätte sie nicht jahrelang Ballett tanzen können.

Sie hat über ihre zweite große Leidenschaft neben dem Schauspiel den experimentellen Kurzfilm "Tanz mit ihr" gedreht, produziert und dabei eigenes Geld verbrannt. No risk, no fun: "Wenn man immer auf Nummer sicher geht, dann kommt man nicht weit. Wenn man etwas Neues macht, dann kann man auch was auf die Nase bekommen", resümiert sie ihre Erfahrungen. "Aber ohne den Mut zum Risiko, hat man keine Chance, neue Welten zu schaffen."

Im Oktober sieht man sie erst mal auf der Leinwand. In "Coming In" verkörpert sie eine Friseurin, in die sich ein schwuler Kollege (Kostja Ullmann) verliebt. Tezels Ausstrahlung wirkt nicht nur auf ihn wie ein Magnet.

Rainer Unruh

Am Himmel der Tag
DO 12.6. Das Erste 22.45 Uhr