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Vierschanzentournee: die TV-Experten im Interview

Springen, 3 Meinungen

SeverinFreund
Severin Freund ist sehr gut in die neue Saison gestartet - sein großes Ziel ist ein Topergebnis bei der Vierschanzentournee Imago

Finale Vierschanzentour­nee: Die drei prominenten Exspringer Toni Innauer, Martin Schmitt und Dieter Thoma über die Vierschanzentournee, Risiken ihres Sports und Wege zum Ruhm

Eine Prognose für die vier Springen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen ist immer heikel. Diesmal aber ganz besonders, weil die ersten beiden Events öfter an den Weltklimagipfel in Paris als an sportlichen Wettkampf denken ließen.

Der Saisonauftakt am 22. November in Klingenthal konnte nach viel zu warmen Winden und Dauerregen in der Vorwoche am Ende nur stattfinden, weil zwölf Lkw zusätzlichen Schnee auf die Anlage brachten. Wenige Tage später musste dann der Weltcup im finnischen Kuusamo wegen anhaltender Wetterkapriolen ergebnislos abgebrochen werden. Welche Weitenjäger sich bereits in Bestform befinden, lässt sich also bestenfalls erahnen.
Auf die Frage nach den Tournee-Favoriten haben wir deshalb verzichtet, als wir mit den TV-­Experten Dieter Thoma (ARD), Toni Innauer (ZDF) und Martin Schmitt (Eurosport) gesprochen haben. Stattdessen baten wir um ihre Meinung zu aktuell debattierten Themen in der Skisprung­szene, zum Beispiel die Kontrolle der Sprunganzüge vor dem Start, um Schummeleien zu vermeiden. Für Wettbewerbsverzerrungen ist jetzt allein der Wind verantwortlich. Aber das scheinbar immer verlässlicher.
TV SPIELFILM: Der Ski-Weltverband FIS hat ein neues Kontrollsystem zur Vermessung der Anzüge eingeführt. Renndirektor Walter Hofer: "Nur zwei Zentimeter mehr Schrittlänge sorgen dafür, dass ein Springer an diesem Tag unschlagbar ist." Was halten Sie von der Maßnahme?

Dieter Thoma: Ich finde es sehr gut, den Aktiven und Trainern schon vor dem Sprung die ewige Unsicherheit zu nehmen, ob andere in einem sehr wichtigen Bereich des Anzugs schummeln oder nicht. Walter Hofer hat schon sehr viel für die Entwicklung, Organisation, Sicherheit und Fairness im Skisprungsport geleistet. Auch diese Idee ist eine sinnvolle.

Toni Innauer: Diese Maßnahme zum entscheidenden Zeitpunkt vor dem Sprung beseitigt einen Schwachpunkt im System. Ich verspreche mir auch einen Abbau des Misstrauens zwischen den Nationen und gegenüber den Kontrollen.

Martin Schmitt: Zunächst muss man sagen, dass Herr Hofer natürlich Recht hat mit seiner Einschätzung. Grundsätzlich ist nicht jeder Springer unschlagbar mit zwei Zentimeter mehr Schrittlänge, aber die Top-Springer können das schon so ausnutzen, dass es ein entscheidender Vorteil ist. Deswegen sind strenge Kontrollen wichtig, und ich glaube, dass die Anzugkontrolle am Anlauf in die richtige Richtung geht.

TV SPIELFILM: Der Japaner Noriaki Kasai will noch mit 54 Jahren springen - sofern die Olympischen Spiele 2026 in Sapporo stattfinden. Wäre das eine Sensation - oder einfach Wahnsinn?

Dieter Thoma: Beides, irgendwie müssen seine Knochen, Sehnen, Muskeln und sein starker Wille von einem anderen Stern sein.

Toni Innauer: Zweifellos wird Noriaki, wenn ihm danach sein sollte, mit 54 noch Skispringen können. Die absolute Sensation wäre aber, wenn er 2026 noch stark genug wäre, die interne Qualifikation für ein Großereignis zu schaffen.

Martin Schmitt: Ich denke, man kann auch mit 54 Jahren noch Skispringen - aber wohl kaum auf allerhöchstem Niveau. Selbst bei einem Noriaki Kasai wird es irgendwann schwierig werden. Noch ist er absolute Weltspitze und vielleicht auch noch bis zu den nächsten Olympischen Spielen. Aber bis 2026? Das halte ich nicht für realistisch.

TV SPIELFILM: Severin Freund hat schon so ziemlich alle wichtigen Titel gewonnen - nur ein Tourneesieg will ihm einfach nicht gelingen. Wo sehen Sie die Hauptursache für seine "Blockade"?

Dieter Thoma: Ich denke, es ist keine echte Blockade gewesen, sondern seine Zeit war bis jetzt einfach noch nicht reif. Mit seiner konstant hohen Qualität und dem Wissen, zu den ganz großen Skispringern zu gehören, ist es meiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit, bis er auch diesen Titel gewinnen "lernt".

Toni Innauer: Dieses Phänomen, das übrigens auch Simon Amann seit Jahren (mit mehr, aber bisher noch nicht mit durchschlagendem Erfolg) zu enträtseln versucht, zählt zu den besonders delikaten im Sport. Die Lösung hängt zusammen mit der passenden sportlichen Formkurve und ein bisschen Glück zum Auftakt in Oberstdorf. Aber eigene Erwartungen, Hoffnungen, negative Erfahrungen ("Liegt mir Oberstdorf wirklich nicht?") und Druck im medialen Umfeld einer Heimveranstaltung schaffen ein Milieu, dem mental nicht leicht zu ,entkommen' ist.

Martin Schmitt: Bei Severin würde ich nicht von einer Blockade sprechen. Er hat in den letzten Jahren Herausragendes geleistet und war eben bei der Tournee nie in Topform. Sie ist mit Sicherheit ein Ziel von ihm, aber für den Tourneesieg muss einfach alles zusammen passen. Ich glaube, er geht die Sache genau richtig an: Er arbeitet in Ruhe ganz akribisch weiter, und das wird sich früher oder später auch auszahlen.

TV SPIELFILM: Den Fußball analysieren in Deutschland gefühlt 80 Millionen Bundestrainer - beim Skispringen mischt sich mangels eigener Erfahrung kaum jemand ein. Verraten Sie doch bitte mal, an welchen Details auch wir Zuschauer einen außergewöhnlich guten oder schlechten Sprung frühzeitig erkennen können.

Dieter Thoma: Das würde hier wirklich den Rahmen sprengen, am besten funktioniert das mit den TV-Bildern zusammen, weil es mit wenigen Worten nicht so leicht zu erklären ist. Also schaut euch bitte die ARD-Übertragungen an! Da versuche ich, es so einfach wie möglich erkennbar zu machen.

Toni Innauer: Um das vor der zweiten Flughälfte erkennen zu können, muss man viele tausend Sprünge gesehen und sich auch schon oft in der Einschätzung getäuscht haben, dann entwickelt man langsam ein Gefühl dafür. Bei einem Freistoß im Fußball können auch nur Experten - aufgrund der Schusshaltung und anderer spezieller Indikatoren - vor dem zweiten Teil der Flugphase des Balles ahnen, was der Ball kurz vor dem Tor machen wird. Wir Laien staunen oft über die überraschende und gefährliche Richtungsänderung der Flugbahn im letzten Moment, die dem Ball aber schon beim optimalen Treffpunkt mitgegeben wurde. In die Dynamik und Effizienz eines Skisprunges fließen vermutlich noch mehr Parameter - und in einer, das Auge überfordernden Geschwindigkeit - ein. Wenn Absprung und Übergangsphase in den Flug sehr unrhythmisch wirken, sind dies meist untrügliche Zeichen für einen Fehler, genauso wie Asymmetrien in der Skiführung. Alle ruckartig erscheinenden Manöver, vor allem jene der "Tragfläche" Ski sind meist ein Hinweis auf Strömungsabriss, Korrekturen oder Auswirkungen vorangegangener Fehler.

Martin Schmitt: Einen außergewöhnlich schlechten Sprung erkennt man an großen Korrekturbewegungen in der Luft. Bei einem guten oder sehr guten Sprung sieht man die Dynamik und die Geschwindigkeit bei der Höhengewinnung und in der ersten Flugphase. Was man als Laie erkennen kann: Ein später Sprung äußert sich immer in einem sehr starken Skieinstellwinkel, d.h. der Ski steht gleich direkt nach dem Absprung sehr steil. Ein früher Sprung bewirkt eher das Gegenteil: Der Ski läuft sehr flach raus, und der Springer hat eher Probleme das System Körper/Ski zu schließen. Grundsätzlich macht einen guten Sprung aus, schnell eine stabile Fluglage einzunehmen, schnell das System Körper/Ski zu schließen, eine harmonische Bewegung auszuführen und ohne Ruckartiges eine gewisse Dynamik in die Absprungbewegung rein zu bringen.

TV SPIELFILM: In der letzten Saison kam es zu mehreren folgenschweren Stürzen. Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage - und wäre es nicht an der Zeit, neben den neuen Helmen auch Rückenprotektoren einzusetzen?

Dieter Thoma: Die FIS hat den Athleten freigestellt, ob sie Rückenprotektoren nutzen wollen oder nicht. Sie stehen also zur Verfügung. Es ist für die Athleten eher eine aerodynamische Frage. Hilft es, weiter zu springen oder nicht? Natürlich möchte man auch sicher ins Tal gleiten, aber dafür ist ein Protektor auch nicht unbedingt eine Garantie - je nachdem wie man bei einem Sturz aufschlägt. Falls die FIS den Protektor vorschreibt, wäre sie im Unglücksfall auch haftbar zu machen. Ein Protektor könnte sich beim Fallen lösen, verrutschen und Verletzungen verursachen anstatt sie zu verhindern. Noch reichen einfach die Erfahrungen nicht aus, um diesen Schritt zu gehen. Trotz stark verbesserter Voraussetzungen ist dieser Sport nach wie vor nicht ganz ungefährlich und man wird Stürze und Verletzungen nie ganz ausschließen können.

Toni Innauer: Seit 2010 und der flächendeckenden Einführung der Kippbindung sind zuvor unbekannte Sturzmuster und vor allem eine gestiegene Zahl von Knieverletzungen zu beobachten. Die durch die Bindung erhöhte Leistungsfähigkeit des Flugsystems bedeutet zugleich ein höheres Sicherheits- und Verletzungsrisiko in der Landephase. Rückenprotektoren sind erlaubt, aber nicht verpflichtend vorgesehen. In der Praxis werden in erster Linie die Auswirkungen des Protektors auf Aerodynamik und Flugweite getestet - und weniger jene auf Sicherheit. Sollte sich ein Sportler mit Rückenprotektor auch leistungsmäßig durchsetzen, wird er bald viele Nachahmer finden.

Martin Schmitt: Trotz aller Sicherheitsbemühungen ist und bleibt Skispringen eine Risikosportart. Ich glaube, derzeit springt im Weltcup nur Andi Kofler mit Rückenprotektoren. Alle anderen haben das Gefühl, damit nicht gleich gut springen zu können. Und bewusst einen Nachteil in Kauf zu nehmen, ist für einen Sportler natürlich schwierig, wenn es um Spitzenresultate und letztlich um Details geht. Wenn man die Sportart noch sicherer machen will, dann wird man nicht umhin kommen, den Einsatz von Protektoren zur Pflicht zu machen.

TV SPIELFILM: Welche der vier Schanzen haben Sie zu ihrer aktiven Zeit am meisten geschätzt - und welche hat heute aus Ihrer Sicht einen besonderen "Charakter"?

Dieter Thoma: Alle Schanzen wurden nach meiner Zeit umgebaut. Damals waren alle vier Anlagen sehr unterschiedlich und hatten alle echten Charakter. Es war fast unmöglich, mit einer Technik auf allen zu gewinnen. Meine Lieblingsschanze war aber ganz klar Oberstdorf. Nach dem Umbau ähneln die ersten drei Schanzen einander mehr als früher, haben aber dennoch Unterschiede. Den stärksten Charakter hat für mich immer noch Bischofshofen mit dem langen flachen Anlauf. Dort kommt es nicht nur auf das Fahrgefühl an, sondern auf ein gutes Timing beim Absprung.

Toni Innauer: Persönlich fühlte ich mich in Oberstdorf und Bischofshofen (sofern die Anlaufgeschwindigkeit gestimmt hat) sehr wohl. Durch viele Umbauten unterscheiden sich die Schanzen weniger als früher. Aus der Reihe der modernen Großschanzen tanzt wohl noch am ehestens Bischofshofen durch den endlos langen und flachen Naturanlauf aus der Reihe. Der Schanzentisch "hilft" dem Springer überhaupt nicht beim Absprung, und das macht das Timing so schwierig.

Martin Schmitt: In den letzten Jahren meiner aktiven Zeit bin ich am liebsten in Garmisch-Partenkirchen gesprungen. Die Schanze kam mir einfach am meisten entgegen, oftmals kann man gar nicht sagen, woran das genau liegt. Der Rhythmus der Schanze und der Radius, mit dem man zum Schanzentisch hinkommt, und wie es dann mit Zug raus geht, das kam mir in Garmisch einfach am meisten entgegen. Deshalb bin ich dort in den letzten Jahren eigentlich immer sehr gern gesprungen. Einen besonderen Charakter hat sicherlich Bischofshofen. Die Schanze fällt mit ihrem sehr flachen und sehr langen Anlauf doch deutlich aus der Reihe und ist für den Springer immer wieder eine Herausforderung. Die Schanze ist wirklich einzigartig im Weltcup.

Frank Steinberg