Als Austauschschülerin in Peking hat Liv Lisa Fries erlebt, wie ihre Altersgenossinnen ab 22 Uhr auf dem Klo für die Schule paukten, weil nirgendwo sonst Licht brannte und ohne Nachtschicht das Pensum nicht zu schaffen war. Diese Besessenheit ist ihr fremd. Aber die Disziplin, die sie brauchte, um fünf Jahre lang die chinesische Sprache zu lernen, kommt der 23-Jährigen heute als Schauspielerin zugute.

Es gibt nur wenige Darstellerinnen, die sich so akribisch auf ihre Arbeit vorbereiten. Das war schon bei dem Drama "Sie hat es verdient" so, das 2011 im Ersten lief. Die Rolle eines verrohten Mädchens, das eine Mitschülerin zu Tode quält, machte die damals 16-jährige Autodidaktin schlagartig bekannt.
Jetzt war die Berlinerin für den SWR-"Tatort: Zirkuskind" zwei Wochen mit dem Wanderzirkus Montana in der Provinz unterwegs. Und freute sich, dass ein Kindheitstraum in Erfüllung ging, der die Generationen übergreift, denn schon ihren Vater zog es zu den Dompteuren und Jongleuren: "Ich war dort selig. Der Zusammenhalt hat mir imponiert und die Leidenschaft und Energie, mit der die Artisten ihrem Beruf nachgehen, auch wenn sie ahnen, dass es in zehn Jahren solche Familienunternehmen vielleicht nicht mehr geben wird."
Power hat Liv Lisa Fries auch. Vor allem aber weiß sie, wie sie ihre Kraft kanalisieren kann. Sie spielt mit der Sicherheit eines Seiltänzers, dem seine Kunst so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass sein Schreiten über dem Abgrund mühelos wie ein Spaziergang wirkt. In ihrem neuen Drama "Und morgen Mittag bin ich tot", für das sie den Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsdarstellerin erhielt, schlüpft Fries in die Haut einer an der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose leidenden Frau.

Jeder Atemzug bereitet Lea Schmerzen, ein Schlauch führt ihr den Sauerstoff zu, den die kaputte Lunge nicht mehr pumpt. Es ist eine Qual, sich das anzusehen. Und ein großes Glück, Zeuge zu werden, wie intensiv Liv Lisa Fries sich diese Figur zu eigen gemacht hat, in der sie ganz aufzugehen scheint. Selbst die ausgebufften Profis vom US-Verleih Adopt Films, der die Lizenz für Nordamerika erworben hat, gingen anfangs davon aus, dass eine echte Kranke die Hauptrolle spielt. Als sie die Wahrheit erfuhren, fiel nur noch ein Wort: Oscar.

Das ist, typisch amerikanisch, übertrieben. Aber nur ein wenig. Liv Lisa Fries hat vor dem Dreh ein Programm absolviert, wie man es sonst nur von Stars wie Daniel Day-Lewis kennt. Ein halbes Jahr verbrachte sie mehr Zeit mit Mukoviszidose-Patienten als mit Freunden. Sie nahm zehn Kilo ab, steckte sich einen Strohhalm in den Mund, hielt sich die Nase zu und rannte Treppen hoch. Immer und immer wieder, bis ihr Körper gelernt hatte, was es heißt, keine Luft zu bekommen.

Dass sie auch Zwischentöne jenseits extremer Charaktere spielen kann, zeigt sie im Drama "Staudamm" (ab 30.1. im Kino). Film und Figur bleiben in der Schwebe. Man kann nur ahnen, was in der von Fries gespielten Zeugin eines Schulmassakers vorgeht: "Mich interessierte, wie man einen Amoklauf ohne Bilder des Grauens erzählen kann." In ihrem Gesicht schimmert das Trauma unter der Fassade der Normalität hindurch.

Fehlt noch eine Komödie. Was Intelligentes, eher Screwball als Gaga-Gags. Ein Projekt gibt es schon. Und fest steht auch: Liv Lisa Fries wird sich darauf so gründlich vorbereiten, als lache sie um ihr Leben.

Rainer Unruh

Tatort: Zirkuskind
SO 16.2. Das Erste 20.15 Uhr