Sie mögen einander, das sieht man sofort. Thomas Stiller, hager, hoch gewachsen, vom Rauchen tiefe Stimme, und seine junge Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries, zart, zerbrechlich, aber mit einem Blick, der signalisiert: Ich kann viel mehr aushalten, als ihr mir zutraut.

Gemeinsam haben sie einen Film gedreht, der das Thema Gewalt unter Jugendlichen auf eine Art und Weise schildert, wie sie im fiktionalen deutschen Fernsehen höchst selten ist.

TV SPIELFILM: Ihr Film erzählt konsequent und sehr brutal, wie Schüler eine Kameradin quälen und zu Tode prügeln. War es schwer, dafür einen Sender zu finden?

THOMAS STILLER: Und wie. Ursprünglich wollte ich den Film schon vor acht Jahren machen. Ich wollte ihn auf Englisch drehen, in den USA. Hat nicht geklappt. Dann habe ich's in Deutschland versucht. Aber auch hier hat es sieben Jahre bis zum fertigen Film gedauert.

Was war das Problem?

THOMAS STILLER: Alle haben gesagt, tolles Buch, Thomas, aber wie wäre es denn, wenn der Film nicht die Tat, sondern die Zeit danach erzählt? Ich sag, super, das habe ich ja noch nie gesehen. Nee, also auf die 100ste Leidensgeschichte einer elegisch trauernden Mutter hatte ich echt keine Lust.

Auf solche Rollen ist Veronica Ferres abonniert, die in Ihrem Film die Mutter des toten Mädchens spielt. Wäre der Film ohne sie realisierbar gewesen?

THOMAS STILLER: Nein. Ohne Veronica hätte ich das Geld für den Film niemals gekriegt.

Ui, sind Sie etwa berechnend?

LIV LISA FRIES: (Lacht) Hätten Sie jetzt nicht gedacht, oder?

THOMAS STILLER: Pssst, nicht alles verraten, Liv. Nein, es wäre wahrscheinlich nie etwas geworden, hätte Veronica nicht so für dieses Thema gebrannt. Sie hat mit der Degeto telefoniert und auf einen großen Teil ihrer Gage verzichtet. Erst dann gab's das Go.

Üblicherweise fängt der Ärger an, wenn die Redakteure reflexartig versuchen, einen explosiven Stoff zu entschärfen.

THOMAS STILLER: In der Regel ja. Bei mir nicht. Ich bin nur bedingt kompromissbereit. Ist schon passiert, dass ich ein Buch zurückgezogen habe, weil zu viele Leute reinquatschen wollten. Ein Regisseur, der eine Vision hat, sollte sich letztlich auch durchsetzen.

Liv, war er am Set auch so taff?

LIV LISA FRIES: Thomas weiß, was er will. Und er weiß, wie er dahin kommt. In der Arbeit kann er extrem unnachgiebig sein, aber die Atmosphäre am Set ist sehr entspannt.

THOMAS STILLER: Ich mache aus dem Set einen schönen Spielplatz, auf dem sich alle wohl fühlen sollen.

Wie erkennt man in einer so reizenden jungen Dame, dass sie das Potenzial hat, ein Mädchen zu spielen, das eiskalt tötet?

THOMAS STILLER: Da bin ich total unbescheiden und sage, wenn ich eine Qualität habe, ist es die, zu sehen, was bei Leuten möglich ist.

Liv, Sie waren 18, als Sie drehten. Wo haben Sie die Energie hergeholt, diese Rolle so konsequent kalt zu spielen?

LIV LISA FRIES: Ich weiß es nicht. Ich suche in mir selbst, ob ich Ansatzpunkte finde, aber ich habe die Belastung ganz schön gespürt. Es war, als würde etwas auf mir sitzen, das mich ganz tief runterzieht.

Die eindrucksvollste Szene, spielt auf dem Dachboden, auf dem Linda und ihre Freunde Susanne zu Tode quälen. Wie lange haben Sie das gedreht?

LIV LISA FRIES: Fünf Tage.

THOMAS STILLER: An denen war die Stimmung auch deutlich anders.

LIV LISA FRIES: Thomas ist eigentlich ein sehr herzlicher Mensch, der Leute, die er mag, gern und oft in den Arm nimmt. Hat er auch bei diesem Film mit allen gemacht. Mit allen, außer mir.

THOMAS STILLER: Liv kam zu mir und sagte, jetzt nimm mich auch mal in den Arm, ich brauch das jetzt. Da ist mir erst aufgefallen, dass ich meine Schauspielerin unbewusst genau so isoliert habe, wie die Umwelt im Film Linda isoliert.

LIV LISA FRIES: Linda ist ja kein Monster. Um ihren kleinen Bruder, der das Down-Syndrom hat, kümmert sie sich liebevoll. Aber sie wächst in einer Familie auf, in der Probleme mit Gewalt gelöst werden. Sie wird von ihrem Vater missbraucht, die Mutter schaut weg. Das staut Aggressionen in ihr auf, die sich plötzlich Bahn brechen.

Liv, hat die Rolle Sie beim Drehen verändert?


LIV LISA FRIES: Schon. Ich habe mich während der Drehzeit sehr zurückgezogen, habe weder meine Mutter, noch meine kleine Schwester an mich rangelassen. Aber die Rolle hat mich nicht traumatisiert. Ich bin nach Ende der Dreharbeiten in die Schule zurück gegangen und habe mein Abi geschrieben.

Thomas, in all Ihren Filmen ist Gewalt ein Thema. Warum?

THOMAS STILLER: Mich interessiert was passiert, wenn Regeln nicht mehr gelten, sei es im Krieg oder in einer Situation wie auf dem Dachboden, die eine fatale Eigendynamik entwickelt. In solchen Situationen hat jeder das Potenzial, gewalttätig zu werden, sogar zu töten. Ich will nicht, dass die Leute hinterher abschalten und sagen, das war nett, und jetzt trinken wir einen Chianti. Wenn die was trinken, soll's ein doppelter Wodka sein, um den Film zu verdauen. Meine Filme sollen weh tun.

Brutal ins Gedächtnis brennt sich das Geräusch, wenn Susannes Schädel bricht.

THOMAS STILLER: (Lacht) Ich bin zum Türken gegangen und habe drei Wassermelonen gekauft, die ich eigenhändig gegen die Wand geklatscht habe. Harte Themen erträgt man beim Dreh nur mit Humor.

Susanne Sturm