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"Die Gentlemen baten zur Kasse"

Eisenbahnraub: Der Cash-Express

Spannend wie ein Krimi erzählt eine neue Doku die Geschichte des Postzugraubs von 1963 - und deckt viel Neues über Tat und Täter auf (FR, 2.8.)

Es war so unglaublich frech: einen schwer bewachten Eisenbahnzug mitten in der Nacht mit einer Batterielampe anzuhalten, den Zugteil mit den 70 Bewachern einfach abzuhängen und dann in Ruhe den Geld-Waggon auszuladen und mit 2,6 Millionen Pfund (heutiger Wert etwa 48 Mio. Euro) spurlos zu verschwinden. Der große englische Postzugraub von 1963 ist noch immer eines der berühmtesten Verbrechen der Welt, die cleveren Männer dahinter genießen längst den Status von Popstars.

Die Gentlemen baten zur Kasse (1 + 2)
FR 2.8. Arte 20.15 Uhr
Dennoch lässt Carl-Ludwig Rettinger den Jahrhundert-Coup in seiner Doku mit Zeitzeugeninterviews, vielen Ausschnitten aus dem deutschen TV-Dreiteiler "Die Gentlemen bitten zur Kasse" und der akribischen Auswertung erst jetzt zugänglicher Polizeiakten noch einmal in neuem Licht erscheinen.

Ohrfeige für die Regierung

Im Jahr des Überfalls erschütterte die Profumo-Affäre Großbritannien. Der damalige - verheiratete - Kriegsminister John Profumo hatte ein Verhältnis mit dem Showgirl Christine Keeler, die wiederum mit einem KGB-Spion liiert war, was dieser für seine Zwecke ausnutzte. Das gewiefte Verbrechen wirkte auf die Öffentlichkeit wie eine willkommene Ohrfeige für die Regierung und setzte die Ermittler unter enormem Druck.

"Der Zugraub war an einem Donnerstag, bereits am Sonnabend hatte die Polizei die Namen aller Räuber", sagt Nick Russell-Pavier im Film, Autor von "The Great Train Robbery". Polizei und Unterwelt seien damals sehr eng verwoben gewesen. Ein Missstand, der erst durch eine große Anti-Korruptionsaktion Mitte der 70er-Jahre behoben wurde. Am Ende stand die Entlassung von rund 400 Polizeibeamten.

Unfairer Prozess?

Obwohl die Täter beim Überfall keine Waffen benutzten, sprachen die Richter beispiellos hohe Haftstrafen aus. Sieben der elf Verurteilten erhielten 30 Jahre Haft, darunter auch der laut Aktenlage mit ziemlicher Sicherheit unschuldige Bill Boal, der lediglich mit einem der Täter befreundet war. Er starb in der Haft.

Als Rechtfertigung für die harten Urteile diente der niedergeschlagene Lokführer. Er habe so schwere Verletzungen davongetragen, dass er in der Folge arbeitsunfähig geworden sei. Nick Reynolds, Sohn von Postraub-Mastermind Bruce Reynolds, bezweifelt das. Opfer Jack Mills sei vielmehr mit dem Entzug seiner Pension gedroht worden, würde er nicht mitspielen. Er habe es gehasst, nicht mehr arbeiten zu dürfen und Schuld daran zu sein, dass elf Familien keinen Ehemann und Vater mehr hatten.

Sorge um die Familie taucht auch in Rettingers Doku immer wieder als Motivation für den Raub auf. Der Kern der Gruppe kam aus dem armen Arbeiterviertel Battersea. Im rigorosen britischen Klassensystem der 50er- und 60er-Jahre sahen die Männer wohl in einem Verbrechen die einzige Möglichkeit, um am Wohlstand der Oberschicht teilhaben zu können.

Obwohl es über die Jahre diverse Verfilmungen des großen Postzugraubs von 1963 gab, gilt die deutsche Version von 1966 nach wie vor als die gelungenste und am besten informierte. Sie ist auf DVD erhältlich und basiert auf den Recherchen zweier "Stern"-Journalisten, die engen Kontakt zu der Ehefrau eines Verurteilten hatten.

Später heiratete sie einen der Journalisten. Zudem ist Horst Tapperts trocken-vornehme Interpretation von Bruce Reynolds wohl sehr nah an der Wirklichkeit. Reynolds Sohn Nick bestätigt jedenfalls: "Horst did a good job."

Frank I. Aures
Fakten zum Coup

Der Überfall
Am 8.8.1963 bringen 15 vermummte Männer einen Postzug bei der Bridego Railway Bridge in Buckinghamshire mit einem manipulierten Gleissignal zum Halten. Sie koppeln Lok und ersten Waggon vom Rest des Zuges ab, in dem das Wachpersonal sitzt, überwältigen den Zugführer mit einem Schlag auf den Kopf und laden 212 Geldsäcke in 25 Minuten ab. Inhalt: 2,6 Millionen Pfund. Die Bande versteckt sich auf einer Farm in der Nähe, die eigens zu diesem Zweck gekauft wurde.

Die Fahndung
Ohne Beweise zu haben, veröffentlichte die
Polizei Fahndungsplakate mit der Überschrift: "Mit diesen Leuten wollen wir reden" - eine Vorverurteilung, die den Behörden egal war.

Das Urteil
Im April 1964 erhielten elf gefasste Zugräuber drakonische Haftstrafen von meist 30 Jahren. Im August 1964 gelang Charlie Wilson die Flucht, im Juli 1965 brach auch Ronnie Biggs aus - mit einer Hebebühne über die Gefängnismauer. Bruce Reynolds, Kopf der Bande, wurde erst 1968 verhaftet, drei andere Räuber nie.

Die Exilanten
Aus Heimweh verließ Reynolds (Foto l., M.) 1968 das mexikanische Exil. Später folgte ihm Wilson . Beide wurden in England inhaftiert. Biggs kehrte nach 35 Jahren in Brasilien schwer krank in seine Heimat zurück, wo er im Knast landete.