Auch dreißig Jahre später kann man kaum fassen, was sich damals ereignete. Der August 1988 war der Monat, in dem das Fernsehen seine Unschuld verlor. Zum ersten Mal in der Geschichte des Mediums in Deutschland wurde ein Verbrechen (siehe Kasten unten) tagelang live übertragen. Man war als Zuschauer erschrocken über die Brutalität der Gangster, die nach einem missglückten Banküberfall mit ihren Geiseln kreuz und quer durch Deutschland und die Niederlande fuhren. Man war aber auch schockiert über hemmungslose Kameraleute und Reporter, die das Fluchtauto umlagerten, die Verbrecher interviewten und sie wie Filmstars inszenierten.

"Gladbeck" erinnert sowohl an das Verbrechen als auch an das mediale Spektakel, das die Tat ­begleitete. Anders als bei früheren Verfilmungen (siehe Seite 77) trennt die ARD deutlich zwischen Fakt und Fiktion: Auf den zwei­teiligen Spielfilm folgt eine Dokumentation, die sich vor allem dem Schicksal der Geiseln und ihren Angehörigen widmet.

"Tot sein ist schöner wie ohne Geld" (Hans-Jürgen Rösner)
Man kennt als Zuschauer die Bilder vom realen Verbrechen, auf YouTube kann man etliche Dokumentationen sehen - warum also jetzt noch ein Film, nur wegen des traurigen Jubiläums? "Filme über historische Ereignisse zu drehen, nur weil sie sich jähren, finde ich furchtbar", sagt Kilian Riedhof. "Das Trauma von Gladbeck endlich detailgetreu und in seiner ganzen Wucht zu erzählen, war lange überfällig." Wie schon bei "Der Fall Barschel" taucht der Regisseur tief in die Vergangenheit ein. Fernschreiber spucken Papier aus, Funkgeräte rauschen, Telefone sind rar. Neu an "Gladbeck" ist vor allem der Blickwinkel. Produzentin Regina Ziegler, die durch Peter Hennings Roman "Ein deutscher Sommer" (2013) an den Ausnahmezustand im August 1988 er­innert wurde, hatte die Idee, die Perspektive der Opfer in den Mittelpunkt zu rücken. Deren Leiden kam bislang tatsächlich zu kurz, sowohl in den Dokumen­tationen als auch in den Spielfilmen. Der Grund liegt auf der Hand: Die ­Täter genossen ihre Popularität. Sie setzten sich für Fotografen in Szene, sie sorgten mit Sprüchen wie "Tot sein ist besser wie ohne Geld" für Aufmerksamkeit, sie wurden unablässig abgelichtet, gefilmt und interviewt. Das Böse faszinierte mehr als das Bangen der um ihr Überleben fürchtenden Geiseln. Allein Silke Bischoff, gespielt von Zsa Zsa Inci Bürkle ("Fack ju Göhte 2"), geriet in den Fokus. Die 18-Jährige zog die Blicke der Fotografen auf sich, aber auch nur weil ihre zerbrechliche Schönheit einen so harten Kon­trast zu den brutalen Visagen der Verbrecher bildete.

Gangster ohne Glamour
"Gladbeck" hält dagegen. Großaufnahmen der Gangster sind ­relativ selten. Oft erscheinen ihre Gesichter angeschnitten im Autospiegel: Wir sehen weder die ganze noch die unverstellte Wahrheit. Und so, wie Sascha Alexander Gersak und Alexander Scheer die Gewalttäter Rösner und Degowski spielen, umgibt sie kein Glamour und kein Glanz. Das Verbrecherduo, das sich seit Sonderschulzeiten kennt, agiert unberechenbar und brutal. Scheer, vom Typ her eher ein Großstadtdandy, verwandelt sich in die Dumpfbacke Degowski mit einfachsten mimischen Mitteln: Es ist eigentlich nur ein Gesichtsausdruck, mit dem er so dumm aussieht, dass man unwillkürlich nach seinem Betreuer Ausschau hält. Rösner ist cleverer. "Er hatte im Knast 22 Semester Zeit, um zu studieren, wie man Krimineller wird", sagt Gersak. Aber für einen Fürsten der Finsternis ist er, das zeigt der Film, dann doch eine Nummer zu klein.

Der echte Rösner muss das geahnt haben. Zweimal zog er vor Gericht, um die Verfilmung zu verhindern, zumal er anders als bei "Wettlauf mit dem Tod", dem RTL-Dokudrama über Gladbeck von 1998, keine "Aufwandsentschädigung" erhielt. Rösners Anwalt Rainer Dietz argumentierte, die Verfilmung könnte die Wiedereingliederung seines Mandanten in die Gesellschaft gefährden. Die Justiz sah das anders.

Mehr Grund zur Klage hätten die Angehörigen der Opfer gehabt. Sowohl Emanuele de Giorgi, der von Degowski erschossen wurde, als auch Silke Bischoff, die eine Kugel aus Rösners Waffe tödlich traf, hätten die Geiselnahme ohne das Versagen von Politik und Polizei vermutlich überlebt. Keiner, der damals Verantwortung trug, hat sich bei den Eltern ­entschuldigt. Die haben kein Verständnis dafür, dass Degowski aus der Haft entlassen wurde und Rösner in den offenen Vollzug drängt. Der Spielfilm und mehr noch die Doku führen vor ­Augen, welche Lebensentwürfe die Gangster zerstört haben.

Dreißig Jahre liegt die Tat zurück. Die Sensationsgier hat seitdem eher zugenommen. Man schauert bei dem Gedanken, ein solches Verbrechen würde sich heute wiederholen. Die ersten Toten wären wahrscheinlich diejenigen, die unbedingt ein Selfie mit den Verbrechern machen wollten, den Verkehr ignorierten und unter die Räder gerieten.

Der Fall: Chronologie eines Verbrechens

16. August 1988: Hans-Jürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32) überfallen eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck. Als die alarmierte Polizei anrückt, nehmen sie zwei Angestellte als Geiseln. Die Verbrecher fordern einen Fluchtwagen und 300 000 Mark. Die Polizei geht auf die Forderungen ein. Mit einem Audi 100 und den Geiseln verlassen die Bankräuber den Tatort.

17. August: Nach einer Irrfahrt durch Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen parken die Gangster ihr Auto in ­Bremen. Rösner und Freundin gehen seelenruhig shoppen, während Degowski bei den Geiseln bleibt. Um 19.07 Uhr kapert das Trio einen Bus der Linie 23. Mit 27 Geiseln verlässt das Fahrzeug um 21.50 Uhr den Busbahnhof. Bei einem Halt an der Raststätte Grundbergsee überwältigt die Polizei Rösners Freundin im WC-Bereich. Die Gangster werden misstrauisch. Degowski erschießt den 15-jährigen Emanuele de Giorgi.

18. August: Um 2.28 Uhr passiert der Bus die niederländische Grenze. Im Tausch gegen ein neues Fluchtauto lassen die Verbrecher alle Geiseln bis auf zwei frei. Am Vormittag tauchen sie in der Kölner Innenstadt auf. Sie geben Interviews und posieren für die Kameras. Um 13.18 Uhr rammt ein SEK-Mercedes den Fluchtwagen auf der A 3. Beamte eröffnen das Feuer. Die Geisel Silke ­Bischoff wird von einer Kugel aus Rösners Waffe tödlich getroffen, Ines Voitle entkommt.

Der Sündenfall: die Medien in der Kritik

Kritik und Selbstkritik: Journalisten brachten den Gangstern Kaffee, gaben ihnen vor bis zu 13 Millionen TV-Zuschauern Gelegenheit zur Selbstdarstellung; Frank Plasberg führte ein Interview mit den Verbrechern, das nie gesendet wurde. Es ist bis heute unter Verschluss. Plasberg machte Karriere wie Hans Meiser, der für RTL berichtete, "Express"-Journalist Udo Röbel wurde sogar "Bild"-Chef. Er hat bereut, sich als "Reporter des Satans" bezeichnet.

Pressekodex verschärft: Der Presserat hat unter dem Eindruck von Gladbeck seine Richtlinie zur "Berichterstattung über Gewalttaten" verschärft und eigenmächtige Vermittlungsversuche von Reportern zwischen Verbrechern und Polizei für unzu­lässig erklärt.

Lerneffekt: Nach der Entführung des Hamburger Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma am 25.3.1996 hielten sich sämtliche Medien an ein Stillhalteabkommen mit der Polizei.

Grenzfall Breivik: Am Fall des Massenmörders Anders Breivik zeigt sich, wie unterschiedlich Medien reagieren können. Ein TV-Sender zeigte Breivik mit Hitlergruß, eine Tageszeitung bot online zwei Varianten an: mit Berichten über Breivik und ohne.

München 2016: Beim Amoklauf von David S. zeigte sich die Macht der neuen Medien: ­Wegen vieler Falschmeldungen auf Facebook und Co. ging die Polizei zeitweise von bis zu 67 Tatorten aus.