Nur die, die dabei waren, wissen, wie es wirklich war. Aber auch wer das Geschehen live im WDR-Fernsehen verfolgte, kriegte irgendwann mit, dass bei dieser Loveparade am 24. Juli 2010 etwas katastrophal aus dem Ruder gelaufen war. Während die Beats wummerten und Zehntausende ihre Körper im Rhythmus der Musik wiegten, ­liefen am unteren Bildrand bereits als Ticker die ersten Schreckensmeldungen. Von Verletzten und Toten war die Rede, von einer Panik, in der Besucher einander gegen Wände gedrückt und gequetscht hätten. Die Kameras zoomten auf Krankenwagen. Man sah Sanitäter, die sich um Opfer kümmerten. Gleichzeitig ging die Party weiter, hämmerte es so laut aus den Boxen, dass die Reporter vor Ort kaum verstehen konnten, was die Kollegen im Studio sie fragten. Erst später, als Handyfilme von Besuchern mitten aus dem Geschehen im Internet auftauchten, wurde klar, wie schlimm und gefährlich das Gedränge und Geschiebe wirklich war. Es waren beklemmende, schreckliche Bilder aus Duisburg von einem Unglück, das die ganze Nation erschütterte

Die Fiktion hätte immer blass ausgesehen

"Das hat mich ähnlich umgehauen wie die Aufnahmen von 9/11", sagt Valentin Holch. Seitdem trieb den Fernsehproduzenten, der in seiner Jugend bei der Berliner Loveparade mitgelaufen war, die Frage um, wie man da­raus einen Film machen könne. Schnell wurde ihm klar, dass eine Rekonstruktion der Geschehnisse im Stil eines Eventfilms à la "Tarragona - Ein Paradies in Flammen" dem Thema nicht angemessen wäre: "Die wirklichen Bilder sind so erschütternd, dagegen hätte die Fiktion immer blass ausgesehen, ganz zu schweigen von dem Respekt gegenüber den Betrof­fenen." Ein weiteres Problem war die Schuldfrage. Um eine Antwort hätte sich ein Regisseur kaum drücken können, der den Verlauf dieses schrecklichen Tages hätte nachzeichnen wollen. Die jedoch ist bis heute juristisch ungeklärt.

Der US-amerikanische Spielfilm "Silver Linings" brachte Holch schließlich auf eine Idee. In der Tragikomödie des ewigen Oscar-Kan­didaten David O. Russell finden zwei verletzte Seelen, gespielt von Jennifer Lawrence und Bradley Cooper, nach allerlei Umwegen zu­einander. Wäre das nicht auch ein Angang, der sich für einen Film über die Auswirkungen der Loveparade anböte: ein Rückblick aus der Sicht von traumatisierten Opfern, die durch das Unglück aus der Bahn geworfen wurden?

Bei Eva und Volker A. Zahn stieß der Produzent auf offene Ohren. Die preisgekrönten Autoren, die für so herausragende Filme wie "Ihr könnt euch niemals sicher sein" und "Mobbing" die Drehbücher geschrieben hatten, sahen sofort das Poten­zial der Geschichte. Beide betonen im Gespräch mehrfach, dass es ihnen nicht um eine quasidokumentarische Darstellung der realen Ereignisse ging. "Wir sind Geschichtenerzähler, keine Journalisten", sagt Eva Zahn. "Wir erfinden Charaktere und die Beziehungen zwischen ihnen, wir können Stellung beziehen, Mitgefühl zeigen, emo­tional bis an die Schmerzgrenze gehen. Unser Anspruch ist, wahrhaftig zu erzählen und nicht dokumentarisch." War bislang im Fernsehen oder in Zeitschriften von Opfern die Rede, ging es fast ausschließlich um die Toten und ihre Angehörigen. "Das Leben danach" macht jetzt auf eine bislang vernachlässigte Gruppe von Personen aufmerksam. "Wir wollen mit unserem Film die Aufmerksamkeit auf die Überlebenden richten, deren Lebensentwürfe durch das Unglück zerbrochen sind", sagt Volker A. Zahn. Menschen wie Antonia.

Jella Haase: Authentisch statt zugänglich

Die junge Frau haben sich die Zahns ausgedacht. Trotzdem wirkt die Figur erschreckend realistisch. Wie in einem Brennspiegel vereint sie in sich viele Eigenschaften der mehr als 650 Personen, die bei der Loveparade physische oder psychische Verletzungen erlitten. Sie zickt und nervt, geht ihren Eltern auf den Geist und stößt den von Carlo Ljubek gespielten Taxifahrer Sascha vor den Kopf, der sie aus ihrer mentalen Abwärtsspirale herausreißen will, aber selbst auch ziemlich komisch tickt. Schauspielerin Jella Haase macht das ganz famos. Wer sie nur als lustige Terrortussi Chantal aus "Fack ju Göhte" kennt, wird überrascht sein, wie tief sie in die Abgründe ihres Charakters eintaucht.

Antonia sei ja total "ballaballa", entfuhr es spontan Jella Haases jüngerer Schwester, als sie die ältere zum ersten Mal in dieser Rolle sah. Auch Jella fremdelte anfangs mit der Figur, sagt aber: "Ich hoffe, dass der Zuschauer Antonia nicht nur verurteilt. Sie kann ja nichts für ihren Zustand." Für einen Fernsehfilm ist das trotzdem ungewöhnlich. "Antonia und Sascha sind keine Figuren, die der Zuschauer auf Anhieb sympathisch findet", erläutert die zuständige WDR-Redakteurin Lucia Keuter, die bereits mit "Altersglühen - Speed Dating für Senioren" ein Händchen für unkonventionelle TV-Formate bewiesen hat. "Aber nur so sind sie auch wahrhaftig. Das gilt besonders für Antonia. Von einer Person, die derart traumatisiert ist, kann man nicht ernsthaft erwarten, dass sie zu allen nett ist. Das wäre unglaubwürdig."

Ein Gedanke, der auch Regisseurin Nicole Weegmann wichtig ist, Expertin für feinfühlig inszenierte Sozialdramen (Grimme-Preis 2017 für "Ein Teil von uns"). Sie glaubt, dass der Umbruch der Fernsehlandschaft und die veränderten Sehgewohnheiten jüngerer Zuschauer die Akzeptanz für ambivalente Charaktere abseits des erzählerischen Mainstreams fördert: "Wir profitieren in Deutschland davon, dass die guten US-Serien das Publikum auf so etwas vorbereitet haben. Der Blick auf die Personen ändert sich. Sie sind mal böse und mal gut, aber nie nur eines von beiden." So etwas freut alle, denen individuell erzählte und ­dramaturgisch anspruchsvolle Filme lieber sind als romantische Komödien von der Stange; Macher wie Zuschauer. Freilich gilt die ­Binsenweisheit, dass Qualität ­etwas mit Qual zu tun hat, auch hier. Carlo Ljubek grübelte nächtelang über die ­Gestaltung seiner Rolle, Jella Haase kniete sich voll rein und nahm sich eigens einen Schauspielcoach, und die Regisseurin betont die Bereitschaft aller, für dieses Projekt mehr zu geben, als man vertraglich verpflichtet gewesen wäre.

WDR fällt Entscheidung zur Ausstrahlung pro Story

Die Arbeit am Drehbuch dauerte mehr als zwei Jahre. 2015 stieß die Regisseurin hinzu. Da hätte der Film ursprünglich schon fertig sein sollen, denn seine Ausstrahlung war zum fünften Jahrestag der Katastrophe geplant. Aber der WDR ließ sich durch den traurigen Anlass nicht hetzen. Eine überzeugende, emotional packende und stimmige Story war ihm wichtiger als der Kotau vor dem Kalender. Die Sorgfalt, mit der gearbeitet wurde, sieht man am Umgang mit Details. Die Flashbacks von Antonia, die Momente, in denen die Bilder von der Loveparade in ihr aufsteigen und Panik in ihr auslösen, sind nur wenige Sekunden lang. Sie wurden mit Stuntleuten auf einem Parkplatz in Duisburg gedreht. Ein großer Aufwand. Aber nur so erhalten die Szenen die existenzielle Wucht, die den Zuschauer spüren lässt, was es heißt, von einer Erinnerung überwältigt zu werden. Und nur so entsteht, anders als bei dokumentarischen Aufnahmen, die subjektive Sicht, die für den Film entscheidend ist.

Erste Vorführungen vor Überlebenden ­geben den Machern recht. "Wir spüren, wie wichtig es für die Menschen ist, dass ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerät", sagt Redakteurin Keuter. Carlo Ljubek hört das gern. Der Schauspieler, der in Hamburg lebt, aber in Bocholt aufgewachsen ist und sich den Menschen in der Region um Duisburg sehr verbunden fühlt, hat sich während des Drehs oft gefragt: "Wie werde ich dem gerecht, dass ich hier einen Film drehe über ein Ereignis, bei dem 21 Menschen starben und mehr als 600 verletzt wurden?" Das Drama ist nicht so düster wie der Tunnel, in dem das Unglück von Duisburg begann. Eine zarte Liebesgeschichte deutet sich an zwischen Antonia und Sascha, den beiden durch die Ereignisse der Loveparade ins Bodenlose gestürzten, ziellos durchs Leben driftenden Existenzen. Man kann die Lovestory für ein Zugeständnis an die Konventionen des Fernsehfilms halten. Es spiegelt aber auch die Erfahrungen von Traumatherapeuten wider, die beobachtet haben, wie sehr sich hinter dem oft schroffen Verhalten der Betroffenen die Sehnsucht nach Zuwendung und Verständnis verbirgt.

So klingt der Film über die Technoparade aus wie ein Bluessong, melancholisch, tröstlich. Das Schicksal hat die Personen geprügelt, aber nicht zerbrochen. Sie rappeln sich wieder auf. Liebe ist stärker als der Schmerz.

Loveparade: Nach sieben Jahren kommt es jetzt zum Strafprozess

Auch heute noch ist die Loveparade in Duisburg präsent. Jedes Jahr wird der Opfer gedacht, die jüngste Gedenkfeier war erstmals öffentlich und fand am 24. Juli in Anwesenheit von Ex-NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft statt.

■ Das Unglück ereignete sich am 24.7.2010. Auf dem Loveparade-Gelände am Duisburger Hauptbahnhof stauten sich am Zugang, dem Straßen­tunnel Karl-Lehr-Straße und einer Rampe, die Besucher. Der Druck in der Menschenmenge wurde schließlich so groß, dass 21 Menschen aus sieben Ländern starben, fast alle an "massiver Brustkompression". Mehr als 650 Personen wurden verletzt.

■ Die Frage nach der Verantwortung wurde unmittelbar nach dem Unglück gestellt. Der Veranstalter, die Lopavent GmbH, machte die Polizei verantwortlich, die Polizei den Veranstalter.

■ Oberbürgermeister Adolf Sauerland geriet im Gefolge der Untersuchungen zunehmend unter Druck. Bei einem Bürgerentscheid am 12.2.2012 wurde der CDU-Politiker abgewählt.

■ Die Staatsanwaltschaft Duisburg erhob am 10.2.2014 Anklage gegen sechs Mitarbeiter der Stadt und vier des Ver­anstalters wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung.

■ Prozess abgelehnt: Die Große Strafkammer des Landgerichts Duisburg lehnte am 5.4.2016 die Eröffnung eines Strafverfahrens ab. Die Richter waren nicht überzeugt von einem Gutachten des Risikospezialisten Keith Still. In seiner Expertise stellte der Panikforscher fest, bei vernünftiger Planung durch Stadt und Veranstalter wäre das Unglück vermeidbar gewesen.

■ Angehörige der Opfer protestierten gegen diesen Beschluss, sammelten online 350 000 Unterschriften für ein Verfahren. Die Staatsanwaltschaft Duisburg legte Beschwerde ein.

■ Prozess startet am 8.12.2017: Das OLG Düsseldorf gab der ­Beschwerde statt. Auf die Richter wartet viel Arbeit: Die Akte zum Verfahren umfasst 52 000 Seiten. Geplant sind 111 Verhandlungstage. Die Zeit drängt: Wird bis 27.7.2020 kein Urteil gefällt, würden die Taten verjähren.